Ein Hauch von Schnee und Asche
würde nachher Marsali besuchen. Und vielleicht auch Mrs. Bug.
»Hast du Mrs. Bug heute Morgen schon gesehen?«, fragte ich an Ian gewandt. Seine Hütte – kaum mehr als ein mit Zweigen bedeckter Schuppen – stand gleich hinter der der Bugs; er musste auf dem Weg zum Haus bei ihnen vorbei.
»Oh, aye«, sagte er mit überraschter Miene. »Sie hat gerade gefegt, als ich vorbeigekommen bin. Hat mir Frühstück angeboten, aber ich habe ihr gesagt, ich würde hier essen. Ich wusste doch, dass Onkel Jamie Schinken hat, aye?« Er grinste und hob zur Illustration sein viertes Schinkenbrötchen.
»Dann fehlt ihr also nichts? Ich dachte, sie wäre womöglich krank; normalerweise ist sie meistens ganz früh hier.«
Ian nickte und biss herzhaft in sein Brötchen.
»Aye, sie wird wohl beschäftigt sein, weil sie sich um den ciomach kümmert.«
Mein brüchiges Wohlgefühl zerbarst wie die Zaunkönigeier. Ein ciomach war ein Gefangener. In meiner schwammigen Euphorie war es mir irgendwie gelungen, die Existenz Lionel Browns zu vergessen.
Ians Bemerkung, dass Jamie vorhatte, heute Morgen Fragen zu stellen, fügte sich plötzlich in einen Zusammenhang – genau wie Fergus’ Anwesenheit. Und das Messer, das Ian geschärft hatte.
»Wo ist Jamie?«, fragte ich schwach. »Habt ihr ihn gesehen?«
»Oh, aye«, sagte Ian erneut überrascht. Er schluckte und wies mit dem Kinn zur Tür. »Er ist nur draußen in der Werkstatt und macht neue Schindeln. Er sagt, das Dach hat ein Leck.«
Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als es oben auf dem Dach hämmerte. Natürlich, dachte ich. Eins nach dem anderen. Doch schließlich würde Lionel Brown auch nirgendwo hingehen.
»Vielleicht… sollte ich einen Blick auf Mr. Brown werfen«, sagte ich und schluckte.
Ian und Fergus wechselten einen Blick.
»Nein, Tante Claire, das solltest du nicht«, sagte Ian ganz ruhig, aber mit einer Autorität, die ich von ihm nicht gewohnt war.
»Wie zum Kuckuck meinst du das?« Ich starrte ihn an, aber er aß einfach nur weiter, wenn auch etwas langsamer.
»Milord sagt, Ihr sollt es nicht tun«, bekräftigte Fergus und ließ einen Löffel Honig in seinen Kaffee rinnen.
»Was sagt er?«, fragte ich ungläubig.
Keiner von ihnen wagte es, mich anzusehen, aber sie schienen dichter zusammenzurücken und strahlten eine widerstrebende Art sturer Widersetzlichkeit aus. Jeder von ihnen würde alles tun, was ich verlangte, das wusste ich – außer Jamie zu trotzen. Wenn Jamie der Meinung war, dass ich nicht nach Mr. Brown sehen sollte, würden mir weder Ian noch Fergus dabei behilflich sein.
Ich ließ den Löffel, an dem noch ungegessene Klümpchen klebten, zurück in meine Porridgeschale fallen.
»Hat er zufällig auch erwähnt, warum er meint, dass ich Mr. Brown nicht besuchen soll?«, fragte ich, angesichts der Umstände überraschend ruhig.
Beide Männer sahen verblüfft aus, dann wechselten sie erneut einen Blick, diesmal länger.
»Nein, Milady«, sagte Fergus ohne jeden Ausdruck in der Stimme.
Es folgte ein kurzes Schweigen, während sie beide zu überlegen schienen. Dann sah Fergus Ian an und überließ ihm achselzuckend das Wort.
»Nun, verstehst du, Tante Claire«, sagte Ian vorsichtig, »wir haben vor, den Mann zu verhören.«
»Und wir werden unsere Antworten bekommen«, sagte Fergus, den Blick auf den Löffel gerichtet, mit dem er seinen Kaffee umrührte.
»Und wenn Onkel Jamie sicher ist, dass er uns alles gesagt hat, was er sagen kann…«
Ian hatte das frisch geschliffene Messer neben seinem Teller auf dem Tisch liegen. Er nahm es in die Hand und zog es nachdenklich der Länge nach über eine Wurst, deren Hülle prompt aufplatzte und das Aroma von Salbei und Knoblauch entweichen ließ. Dann blickte er auf und sah mir direkt in die Augen. Und mir wurde klar, dass ich zwar nach wie vor ich sein mochte – dass Ian aber längst nicht mehr der Junge von früher war. Ganz und gar nicht.
»Dann werdet ihr ihn umbringen?«, sagte ich, und meine Lippen waren trotz des heißen Kaffees taub.
»O ja«, sagte Fergus ganz leise. »Davon gehe ich aus.« Auch er sah mir jetzt in die Augen. Seine Miene war trostlos und grimmig, und seine tief liegenden Augen waren so hart wie Stein.
»Er-es-ich meine… er ist es doch nicht gewesen«, sagte ich. »Das wäre doch gar nicht möglich gewesen. Er hatte sich doch schon das Bein gebrochen, als -« Mir schien die Luft zu fehlen, um meine Sätze zu beenden. »Und Marsali. Das war nicht – ich glaube
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