Ein Hauch von Schnee und Asche
Jamie die Hand und gebot ihm zu schweigen.
»Ich bin ihnen mit meinen Männern gefolgt und habe sie getötet«, sagte er im selben ungerührten Ton. »Ich habe Euren Bruder unter ihnen gefunden. Ich habe ihn gefangen genommen, ihm aber nichts angetan.«
Alles holte Luft, und in der Menge hinter uns ertönte beklommenes Gemurmel. Richard Browns Augen fuhren zu den Bündel auf der Schlepptrage, und sein Gesicht wurde weiß unter dem verkrusteten Bart.
»Ihr-«, krächzte er. »Nelly?«
Das war mein Stichwort. Ich holte tief Luft und trieb Clarence vorwärts.
»Euer Bruder hatte einen Unfall, bevor mein Mann uns gefunden hat«, sagte ich. Meine Stimme war heiser, aber gut verständlich. Ich holte noch tiefer Luft, damit mich jeder hören konnte. »Er hat sich bei einem Sturz schwer verletzt. Wir haben uns seiner Verletzungen angenommen. Doch er ist gestorben.«
Jamie ließ eine Minute fassungslosen Schweigens verstreichen, ehe er fortfuhr.
»Wir haben ihn Euch mitgebracht, damit Ihr ihn begraben könnt.« Er machte eine kleine Handbewegung, und Ian, der vom Pferd gestiegen war, schnitt die Stricke durch, die die Trage hielten. Gemeinsam mit den beiden Cherokee zog er sie vor die Veranda und legte sie auf der zerfurchten Straße ab. Dann kehrten sie wortlos zu ihren Pferden zurück.
Jamie neigte abrupt den Kopf und wendete Gideon. Bird folgte ihm, seelenruhig und tatenlos wie ein Buddha. Ich wusste nicht, ob er genug Englisch verstand, um Jamies Worten zu folgen, doch das spielte keine Rolle. Er verstand seine Rolle und hatte sie perfekt gespielt.
Die Browns mochten ein lohnendes Nebeneinkommen durch Mord, Diebstahl und Sklavenhandel haben, doch ihre Haupteinkünfte verdankten sie den Indianern. Seine Anwesenheit an Jamies Seite bedeutete eine deutliche Warnung, dass den Cherokee der König von England und sein Abgesandter wichtiger waren als der Handel mit den Browns. Falls Jamie oder sein Eigentum erneut durch sie zu Schaden kamen, würde diese profitable Verbindung abreißen.
Ich wusste nicht alles, was Ian zu Bird gesagt hatte, als er ihn bat zu kommen – doch ich hielt es für sehr wahrscheinlich, dass es eine unausgesprochene Übereinkunft gab, dass keine offiziellen Ermittlungen der Krone bezüglich des Schicksals der Gefangenen erfolgen würden, die möglicherweise in Indianerhände gelangt waren.
Dies war schließlich reine Geschäftssache.
Ich trat Clarence fest in die Rippen und nahm meine Position hinter Bird ein. Ich hielt meinen Blick fest auf den Yen gerichtet, der mitten auf seinem Rücken aufglitzerte und an einem scharlachroten Faden in seinem Haar hing. Ich verspürte ein beinahe unkontrollierbares Bedürfnis zurückzublicken und umklammerte die Zügel mit den Händen und bohrte die Fingernägel in meine Handflächen.
War Donner doch tot? Er war nicht unter den Männern in Richard Browns Begleitung; das hatte ich geprüft.
Ich wusste nicht, ob ich mir wünschte , er wäre tot. Das Verlangen, mehr über ihn herauszufinden, war stark – doch das Verlangen, die ganze Sache erledigt zu wissen, jene Nacht auf dem Berg ein für alle Mal hinter mir zu lassen, alle Zeugen der sicheren Stille des Grabes überlassen zu sehen – das war stärker.
Ich hörte, wie sich Ian und die beiden Cherokee hinter uns einreihten, und innerhalb kürzester Zeit war Brownsville nicht mehr zu sehen, obwohl mir der Geruch von Bier und Schornsteinrauch hartnäckig in der Nase hing. Ich trieb Clarence an Jamies Seite; Bird war zurückgefallen, um mit seinen Männern und Ian zusammen zu reiten; sie lachten über irgendetwas.
»Ist es damit vorbei?«, fragte ich. Meine Stimme fühlte sich in der kalten
Luft kraftlos an, und ich war mir nicht sicher, ob er mich gehört hatte. Doch das hatte er. Er schüttelte kaum merklich den Kopf.
»So etwas ist nie vorbei«, sagte er leise. »Aber wir leben noch. Und das ist gut.«
FÜNFTER TEIL
UNVERHOFFT KOMMT OFT
35
Laminaria
Nachdem wir heil aus Brownsville zurückgekehrt waren, machte ich mich mit gezielten Schritten daran, wieder zum normalen Alltag überzugehen. Einer dieser Schritte war ein Besuch bei Marsali, die ihre Zuflucht bei den McGillivrays aufgegeben hatte und zurückgekehrt war. Fergus hatte ich ja schon gesehen, und er hatte mir versichert, dass sie sich von ihren Verletzungen erholt hatte und sich gut fühlte – aber ich musste mich selbst davon überzeugen.
Ich sah, dass ihr Hof zwar aufgeräumt war, aber gewisse Zeichen des Verfalls an den Tag legte;
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