Ein Hauch von Schnee und Asche
jemanden einstechen? O ja! , dachte sie wütend. Und bitte, lass es Emmanuel sein.
108
Ganz schön groß
Roger wartete in der Nähe des Strandes im Schutz der dichten Wachsmyrten; ein Stückchen weiter lagen Ian und Jamie ebenso auf der Lauer.
Das zweite Schiff war am Morgen eingetroffen und in gebührendem Abstand von dem Sklavenschiff vor Anker gegangen. Sie hatten Netze über die
Bordwand von Roarkes Schiff geworfen und als Fischer getarnt beobachten können, wie zuerst der Kapitän des Sklavenschiffs an Land ging und dann eine Stunde später vom zweiten Schiff ein Boot zu Wasser gelassen und ans Ufer gerudert wurde, in dem sich zwei Männer – und eine kleine Truhe – befanden.
»Ein feiner Herr«, hatte Claire berichtet, die die Vorgänge durch das Teleskop verfolgte. »Perücke, gut gekleidet. Der andere ist ein Bediensteter – glaubt ihr, der Herr ist einer von Bonnets Handelspartnern?«
»Ja«, hatte Jamie gesagt, während er verfolgte, wie das Boot auf den Strand zufuhr. »Bringt uns bitte etwas weiter nach Norden, Mr. Roarke; wir gehen an Land.«
Zu dritt waren sie eine halbe Meile vom Strand entfernt gelandet und hatten sich durch den Wald vorgearbeitet. Dann hatten sie im Gebüsch Position bezogen und sich zum Warten niedergelassen. Die Sonne war heiß, doch so dicht am Strand wehte eine frische Brise, und abgesehen von den Insekten war es nicht unangenehm im Schatten. Zum hundertsten Mal strich Roger etwas beiseite, das ihm über den Hals kroch.
Das Warten machte ihn nervös. Das Salz juckte auf seiner Haut, und der Duft des Gezeitenwaldes mit seiner einmaligen Mischung aus Kiefernduft und einem Hauch von Seetang und das Knirschen der Muscheln und Nadeln unter seinen Füßen erinnerten ihn lebhaft an den Tag, an dem er Lillington umgebracht hatte.
Genau wie jetzt war er damals mit der Absicht unterwegs gewesen, Stephen Bonnet umzubringen. Doch der schwer fassbare Pirat war gewarnt worden und hatte ihnen einen Hinterhalt gelegt. Einzig dem Willen Gottes – und Jamie Frasers Geschicklichkeit – waren es zu verdanken, dass er nicht selbst als Kadaver in einem ähnlichen Wald geendet war und seine Gebeine von Wildschweinen verstreut zwischen den glänzenden Nadeln und den leeren weißen Muschelschalen bleichten.
Seine Kehle war wieder zugeschnürt, doch er konnte nicht schreien oder singen, um sie zu lockern.
Ich sollte beten, dachte er. Aber er konnte es nicht. Selbst die Litanei, die unaufhörlich in seinem Innern widergehallt hatte, seit er an jenem Abend erfahren hatte, dass sie fort war – Herr, lass sie in Sicherheit sein -, selbst dieses kleine Bittgebet war irgendwie versiegt. Seinen derzeitigen Gedanken – Herr, lass mich ihn umbringen – konnte er nicht aussprechen, nicht einmal vor sich selbst.
Die gezielte Absicht und das Verlangen, jemanden zu ermorden – er konnte wohl kaum erwarten, dass ein solches Gebet erhört wurde.
Im Moment beneidete er Jamie und Ian um ihren Glauben an Götter des Zorns und der Rache. Während Roarke und Moses das Fischerboot an Land gebracht hatten, hatte er gehört, wie Jamie Claire etwas zumurmelte und ihre Hände in die seinen nahm. Und dann hatte er gehört, wie sie ihn
auf Gälisch segnete, indem sie den Erzengel Michael anrief, den Herrscher über die Domäne des Krieges, und so einen Kämpfer auf dem Weg in die Schlacht segnete.
Ian hatte lediglich im Schneidersitz dagesessen und mit verschlossener Miene beobachtet, wie das Ufer näher kam. Wenn er betete, war es nicht zu sagen, zu wem. Doch als sie landeten, war er am Ufer eines der zahllosen Kanäle stehen geblieben, hatte sich mit den Fingern etwas Schlamm genommen und sich sorgfältig das Gesicht angemalt, indem er eine Linie von der Stirn zum Kinn zog, dann vier parallele Streifen auf seiner linken Wange und einen breiten dunklen Kreis um das rechte Auge. Es war bemerkenswert enervierend.
Ganz offensichtlich hatte keiner von ihnen die geringsten Bedenken bei der Sache, und sie zögerten keine Sekunde, Gott um Hilfe bei ihren Bemühungen zu bitten. Er beneidete sie.
Und saß hartnäckig schweigend unter der verschlossenen Himmelspforte, die Hand am Griff seines Messers und eine geladene Pistole im Gürtel – und sann auf Mord.
Kurz nach Mittag kam der kräftige Kapitän des Sklavenschiffs zurück, und seine Schritte knirschten gleichgültig auf den getrockneten Kiefernnadeln. Sie ließen ihn vorbei und warteten.
Am späten Nachmittag fing es an zu regnen.
Aus reiner
Weitere Kostenlose Bücher