Ein Hauch von Schnee und Asche
Langeweile war sie wieder eingenickt. Es fing an zu regnen; das Geräusch weckte sie kurz, dann versetzte es sie noch tiefer in den Schlaf, und die Tropfen prasselten sanft auf das Dach aus Palmblättern. Sie erwachte abrupt, als ihr einer dieser Tropfen kalt ins Gesicht fiel, rasch gefolgt von einer Reihe seiner Kameraden.
Sie fuhr ruckartig auf und blinzelte orientierungslos vor sich hin. Sie rieb sich das Gesicht und blickte hoch; der Putz der Decke hatte eine kleine feuchte Stelle, umringt von einem sehr viel größeren Fleck, der von früheren Lecks herrührte, und wie von Zauberhand bildeten sich in seiner Mitte Tropfen, die dann einer nach dem anderen wie perfekte Perlen auf die Matratze fielen und zerplatzten.
Sie stand auf, um das Bett unter der undichten Stelle fortzuziehen, dann hielt sie inne. Sie richtete sich langsam auf und hob die Hand an die feuchte Stelle. Die Decke hatte eine normale Höhe für diese Zeit, knapp über zwei Meter; sie konnte sie problemlos erreichen.
»Sie ist ganz schön groß«, sagte sie laut. »Da hast du, verdammt noch mal, Recht.«
Sie legte die Hand flach auf die feuchte Stelle und drückte, so fest sie konnte, dagegen. Der nasse Putz gab sofort nach, genau wie die verrotteten Latten darüber. Sie riss die Hand zurück, zerkratzte sich den Arm an den kantigen Enden der Lättchen, und eine kleine Kaskade aus schmutzigem
Wasser, Tausendfüßlern, Mäusekot und Palmblattschnitzeln ergoss sich durch das Loch, das sie produziert hatte.
Sie wischte sich die Hand an ihrem Hemd ab, packte den Rand des Lochs und zog daran, bis sie so viel von den Latten und vom Putz beseitigt hatte, dass die Lücke groß genug für ihren Kopf und ihre Schultern war.
»Okay«, flüsterte sie dem Baby zu, oder auch sich selbst. Sie sah sich im Zimmer um, zog ihr Korsett über das Hemd und steckte sich die angespitzte Elfenbeinstange vorn hinein.
Dann stellte sie sich auf das Bett, holte tief Luft, hielt die Hände über sich, als wollte sie einen Kopfsprung machen und tastete dann nach etwas, das fest genug war, um sich daran abzustoßen. Stück für Stück hievte sie sich schwitzend und ächzend auf das dampfende Dach aus scharfkantigen Blättern, die Zähne zusammengebissen und die Augen zum Schutz vor dem Schmutz und den toten Insekten geschlossen.
Ihr Kopf stieß in die feuchte Luft unter freiem Himmel vor, und sie holte keuchend Atem. Sie hatte sich mit dem Ellbogen auf einen Deckenbalken gestützt und drückte sich jetzt weiter daran ab. Ihre Beine strampelten vergeblich in der Luft, um ihr Auftrieb zu geben, und sie spürte die Überlastung ihrer Schultermuskeln, doch schiere Verzweiflung beförderte sie nach oben – das, und die albtraumhafte Vorstellung, dass Emmanuel ins Zimmer kommen und ihre untere Körperhälfte von der Decke hängen sehen könnte.
Unter einem heftigen Blätterregen schob sie sich hinaus und legte sich flach auf das regennasse Dach. Es regnete immer noch stark, und innerhalb von Sekunden war sie durch und durch nass. Ein Stückchen weiter sah sie eine Konstruktion aus dem Dach ragen und robbte vorsichtig darauf zu, indem sie – ständig in der Angst, das Dach könnte unter ihrem Gewicht nachgeben – mit Händen und Ellbogen nach den festen Deckenbalken unter der gepressten Blätterschicht suchte.
Die Konstruktion erwies sich als kleine Plattform, die auf der einen Seite ein Geländer hatte und fest auf den Balken auflag. Auf der Insel regnete es noch, doch auf dem offenen Meer war der Himmel weitenteils klar, und die untergehende Sonne in ihrem Rücken ergoss sich zwischen den verstreuten, schwarzen Wolkenstreifen in brennendem, blutigem Orange über Himmel und Wasser. Es sieht aus wie das Ende der Welt, dachte sie, und ihre Rippen drückten gegen die Schnüre ihres Korsetts.
Von diesem Aussichtspunkt auf dem Dach aus konnte sie über den Wald blicken; der Strandstreifen, den sie von ihrem Fenster aus erspäht hatte, war deutlich zu sehen – und jenseits davon zwei Schiffe, die dicht vor der Insel vor Anker lagen.
Zwei Boote lagen am Strand, allerdings in einigem Abstand voneinander – wahrscheinlich eins von jedem Schiff, dachte sie. Eins der Schiffe musste das Sklavenschiff sein, das andere gehörte wahrscheinlich Howard. Eine
Welle der Erniedrigung und Wut überspülte sie – es überraschte sie, dass der Regen nicht auf ihrer Haut verdampfte. Doch sie hatte keine Zeit, sich große Gedanken darüber zu machen.
Stimmen drangen schwach durch den
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