Ein Hauch von Seide - Roman
Immerhin war er ein Meter achtundachtzig groß, muskulös und ein ehemaliger Schafscherer. Sein Gegenüber dagegen war kaum ein Meter achtundsiebzig, hatte manikürte Fingernägel, sprach entnervend schleppend und war gekleidet wie eine Schneiderpuppe. Kein ernst zu nehmender Gegner, hatte Dougie sich gegenüber seinen neuen Freunden gebrüstet. Er war noch von seinem Sieg überzeugt gewesen, kurz bevor er auf dem Boden der Kneipe zusammengebrochen war.
Als Dougie schließlich wieder zu sich gekommen war, hatte er in einem fremden Bett in einem fremden Zimmer gelegen, dem, wie er später herausfand, Gästezimmer seines neuen Arbeitgebers.
Auf seine Frage, was er dort mache, hatte Lew nur die Achseln gezuckt und geantwortet: »Konnte dich doch nicht auf dem Boden der Kneipe liegen lassen, alter Bursche. Es schickt sich nicht, so eine Sauerei zurückzulassen, weißt du, und da deine Freunde gegangen waren, hatte ich keine andere Wahl, als dich mit her zu nehmen, so wenig verlockend die Aussicht auch war.«
Immer noch halb betrunken, war Dougie ganz gefühlsselig geworden und hatte sich überschwänglich bedankt. »Weißt du was, du bist ein echter Kumpel.«
»Sei versichert«, hatte Lew geantwortet, »dass ich alles andere bin als das. Ich musste dich aus dem Pub schleifen, weil der Wirt mir gedroht hat, ich müsse ein Zimmer für dich bezahlen. Das Letzte, was ich in meinem Gästezimmer wollte, war ein schwitzender, betrunkener Australier, der nach Bier und Schafen stinkt.«
Dougie war bald dahintergekommen, dass Lew ein Frauenheld war, der die Frauen schneller im Bett hatte, als Dougie mitzählen konnte, und sie noch schneller wieder fallen ließ. Oft hatte er drei oder vier gleichzeitig an der Hand. Dougie hatte nie Probleme gehabt, Frauen für sich zu interessieren, doch Lew, räumte er freimütig ein, spielte in einer ganz anderen Liga.
Lew erklärte Dougie, dass er der einzige Sohn eines jüngeren Sohnes war, »was bedeutet, dass in meinen Adern zwar blaues Blut fließt, dass mein Bankkonto aber leider mit gar nichts gefüllt ist. Verstehst du, alter Junge, der älteste Sohn bekommt den Titel und die Ländereien, der zweite Sohn geht in die Armee und der jüngste Sohn in die Kirche, es sei denn, er findet eine reiche Erbin zum Heiraten. Es ist eine langweilige Plackerei, sich sein Brot verdienen zu müssen, aber ich fürchte, was sein muss, muss sein.«
Dougie kam Lews Leben alles andere als langweilig vor. Wenn er nicht fotografierte, war er entweder irgendwo auf einer Party unterwegs oder gab, wie an diesem Abend, selbst eine. Heute Abend war eine »Bottleparty« – jeder brachte etwas zu trinken mit, um den Geburtstag eines Freundes zu feiern.
Es würden Mannequins da sein und wagemutigere junge Frauen aus der Oberschicht mit ihren Begleitern, die einen Blick auf Lews halbseidenes Boheme-Leben werfen wollten, Schauspieler aus dem nahe gelegenen Royal Court Theatre , Künstler, Schriftsteller und Musiker.
Die Ersten würden bald kommen. Das Grammofon spielte ein ruhiges Ella-Fitzgerald-Stück. Dougie war bei solchen Gelegenheiten immer nervös. Er war stolz auf das, was er war – ein Australier aus dem Outback –, doch er wusste, dass die blasierten jungen Londoner sich gern über seinesgleichen lustig machten und über ihre linkische Art und ihre Patzer lachten. Dougie machte dauernd etwas falsch, trat mit seinen großen Füßen in ein Fettnäpfchen nach dem anderen und stand am Ende oft genug da wie ein rechter Idiot. Da, wo Dougie aufgewachsen war, hatte kein Bedarf bestanden an den feinen Manieren und Sitten, die Lews Clique als selbstverständlich betrachtete. Sein Onkel hatte alle Hände voll zu tun gehabt mit der Arbeit auf der Schaffarm und keine Zeit gehabt, seinem verwaisten Neffen die Feinheiten der Etikette beizubringen, selbst wenn er sich – was Dougie bezweifelte – damit ausgekannt hätte.
Mrs Mac, die Haushälterin seines Onkels, hatte ihm Manieren beigebracht und dafür gesorgt, dass er lernte, anständig mit Messer und Gabel zu essen.
Als Junge hatte Dougie mit den Wanderarbeitern, Viehtreibern und Schafscherern gearbeitet und gelernt, wie es unter Männern zuging, nämlich dass man keine Fragen über die Vergangenheit des anderen stellte und dass ein Mensch Respekt verdiente für das, was er war und was er hier und jetzt tat, und nicht, weil er irgendeinen hochtrabenden Titel besaß. Ein hartes Leben, aber fair.
Jetzt musste er lernen, nach ganz anderen Regeln und
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