Ein Hauch von Seide - Roman
gesagt, sie fände ihn vulgär. Sexy war das Wort, das ihre ältere Schwester eigentlich gemeint hatte, doch es würde ihr nie über die Lippen kommen, schließlich war sie Ella. Janey erwiderte Olivers Winken mit einem Lächeln, er schloss die Tür, und das Taxi schoss in Richtung Trafalgar Square davon.
»Janey, du wirst ja patschnass«, schimpfte Ella. »Warum hast du keinen Mantel an?«
Weil der Mantel ihre Brüste verbarg, wäre die ehrliche Antwort gewesen, doch das konnte Janey natürlich nicht laut sagen.
»Lasst uns schnell reingehen«, sagte sie stattdessen, schoss über das nasse Pflaster und überließ es den beiden, ihr zu folgen, hin- und hergerissen zwischen Schuldgefühlen und Siegesfreude und innerlich ganz quirlig vor Aufregung. Vielleicht war heute Abend der Abend, an dem sie mit Dan bis zum Letzten gehen würde.
Janey hatte den anderen nicht gesagt, dass sie Dan kennengelernt hatte, und ihnen erst recht verschwiegen, dass sie hoffte, er würde auf der Party sein, doch Ella ließ sich nichts vormachen. Janey führte etwas im Schilde, und Ella wusste instinktiv, dass es sie in ernste Schwierigkeiten bringen konnte.
Ella ging Schwierigkeiten jeglicher Art am liebsten aus dem Weg. Allein bei dem Gedanken stieg in ihrem Bauch ein ebenso gefürchtetes wie vertrautes unangenehmes Gefühl auf. Sie erinnerte sich noch gut an dieses Gefühl als ganz kleines Mädchen, als sie sich bei einem demütigenden Vorfall im Kinderzimmer in die Hose gemacht hatte. Ihre Mutter war in einer ihrer Stimmungen gewesen, und Ella hatte zu viel Angst gehabt, ihre Mutter zu unterbrechen, um ihr zu sagen, dass sie auf die Toilette musste. Ihre Mutter war unglaublich wütend geworden, und zur Strafe musste Ella den Rest des Tages in ihrer nassen Unterhose herumlaufen.
Tief verborgen, da, wo sie all diese schmachvollen Dinge verwahrte, an die sie sich eigentlich gar nicht mehr erinnern wollte, waren auch Bilder der schwarzen Spitzenunterwäsche, in der sie ihre Mutter einmal gesehen hatte. Es war ein heißer Nachmittag gewesen, und Ella hätte eigentlich ihren Mittagsschlaf halten sollen. Sie war aufgewacht, weil sie Durst hatte, und war aufgestanden und nach unten in die Küche gegangen, um die Köchin um etwas zu trinken zu bitten. Auf dem Rückweg hatte sie aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern Lachen gehört und war davor stehen geblieben und hatte die Schlafzimmertür geöffnet.
Ihre Mutter hatte in ihrer schwarzen Spitzenunterwäsche auf dem Bett gelegen, während Tante Cassandra, die einen Bademantel trug, ihr mit einem schwarzen Federfächer Luft zufächelte.
In dem Augenblick, da sie sie bemerkt hatten, waren die beiden Frauen verstummt, und dann hatte ihre Mutter wütend gekreischt: »Wie kannst du es wagen, hier reinzukommen, du böses Mädchen? Raus hier! Raus!«
Ella war rückwärts aus dem Zimmer gestolpert und war die Treppe hinauf ins Kinderzimmer gelaufen.
Sie hätte Janey gern gewarnt, sie dürfe es auf keinen Fall ihrer Mutter nachtun und so werden wie sie, doch sie fand einfach nicht die Worte, um zu erklären, was genau an der Wildheit ihrer verstorbenen Mutter sie eigentlich so beunruhigte und aus der Fassung brachte.
Dougie ließ die Mädchen ein, bedachte sie mit einem anerkennenden Grinsen, stellte sich vor und fragte nach ihren Namen.
»Ella und Janey Fulshawe«, antwortete Janey.
»Rose Pickford«, fügte Rose hinzu.
Fulshawe? Pickford? Diese Namen waren Dougie bekannt, hatte er sie doch oft genug in der Korrespondenz des Anwalts des verstorbenen Herzogs gelesen. In einem langen Brief, der Dougie noch in Australien erreicht hatte, hatte der Anwalt ihm die komplizierten Familienverbindungen der verwitweten Herzogin in sämtlichen Einzelheiten erklärt und ihm dazu einen Stammbaum beigelegt. Zuerst hatte Dougie sich kaum damit befasst, doch nach seiner Ankunft in London hatte er sich den Familienstammbaum genauer angesehen. Er hatte jedoch nicht erwartet, dass er unter solchen Umständen zum ersten Mal mit den jungen Frauen zusammentreffen würde, die darin verzeichnet waren. Falls sie es waren und er nicht voreilig falsche Schlüsse zog. Sie müssen es sein, dachte er und bedachte Rose mit einem schnellen, abschätzenden Blick. Er erinnerte sich jetzt auch daran, dass etwas in dem Familienstammbaum darauf hingewiesen hatte, dass der Bruder der Herzogin eine halbchinesische Tochter hatte, und Rose war eine schöne Eurasierin. Jetzt verfluchte Dougie sich dafür, den Einzelheiten der Genealogie
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