Ein Hauch von Seide - Roman
schon ausschlagen – schließlich übte ein weiterer Drink genauso wenig Anziehungskraft auf sie aus wie Oliver –, doch als sie den Mund öffnete, um nein zu sagen, ging in ihrem Kopf ein Licht an. Stand hier direkt vor ihr nicht der Schlüssel zu ihrem selbstgeschaffenen Gefängnis und dazu, Brads Geliebte zu werden? Ihr wurde ganz schwindlig und zittrig, als wäre sie plötzlich von trockenem Land auf etwas sehr viel Instabileres getreten – instabil, aber auch unerwartet belebend.
Oliver hatte nicht erwartet, dass sie ja sagen würde. Er nickte. Warum hatte er sie überhaupt gefragt, wenn er angenommen hatte, sie würde seine Einladung ausschlagen? Weil es ihm die Gelegenheit gegeben hätte, den Köder nach ihr auszuwerfen und zu sehen, wie sie reagierte?
Als sie wenige Minuten später in der Bar des Hotel Pierre saßen, wo Ella ihren zweiten Martini trank, überlegte sie, warum sie nicht längst auf diese Lösung gekommen war. Den ersten Martini hatte sie heruntergekippt wie jemand, der Medizin nimmt; und das war in gewissem Sinne ja auch genau das, was sie tat, denn sie brauchte den Alkohol, um zwischen sich und dem, was sie vorhatte, eine wohlige Barriere zu errichten.
Oliver hatte, wie jeder wusste, mit Dutzenden von Frauen geschlafen. Sie musste ihn nur tun lassen, was er normalerweise auch tat, um sich bei ihren Geschlechtsgenossinnen so beliebt zu machen. Damit wurde sie nicht nur ihre Jungfräulichkeit los, sondern konnte, und das war mindestens genauso wichtig, auch Erfahrung sammeln. Irgendwie war es ihr völlig egal, wenn Oliver von ihrer Unerfahrenheit erfuhr, aber bei ihm war sie ja schließlich auch nicht darauf aus, Eindruck zu machen, oder?
Doch die Sache lief nicht ganz so, wie sie erwartet hatte, musste sie sich eingestehen, als sie auf der mit Velours gepolsterten Bank saß, während Oliver ihr gegenüber Platz genommen hatte, zwischen ihnen der Tisch. Sie hatte inzwischen den dritten Martini vor sich und war schon ein wenig verzweifelt. Jeder wusste, dass Oliver sich auf sämtliche Mannequins stürzte. Gut, sie war kein Mannequin, aber ohne besonders eitel zu sein, wusste sie doch, dass sie einigermaßen attraktiv war, selbst wenn sie damals in London – und in Venedig, als Oliver sie geküsst hatte – nicht besonders gut ausgesehen hatte. Doch bis jetzt hatte Oliver noch gar nichts unternommen. Machte sie etwas falsch? Aber was? Sie sah sich auf der Suche nach einer Eingebung in der Bar um.
Ein Paar kam herein, der Mann führte die Frau zu der Bank. Sobald sie saß, klopfte sie mit der flachen Hand einladend auf den Platz neben sich, damit ihr Begleiter sich zu ihr setzte.
Natürlich!
Ella wandte sich Oliver zu, plötzlich befangen.
Sie musste. Jetzt oder nie. Konzentrier dich ganz darauf, was auf dem Spiel steht, redete sie sich gut zu. Du willst doch mit Brad zusammen sein, oder? Du bist in ihn verliebt, und er will dich – also, er will die Frau, die er in dir sieht, die Frau, die du nie sein wirst, wenn du jetzt die Nerven verlierst.
Sie versuchte zu lächeln und fragte sich, ob das Ergebnis so gezwungen und unnatürlich aussah, wie es sich anfühlte. Sie musste sich räuspern, bevor sie ein Wort herausbrachte, und ihre Stimme kam ihr schrecklich steif vor, als sie zu Oliver sagte: »Warum setzt du dich nicht neben mich?«
Oliver verschluckte sich fast an seinem Drink. Ella, die Eisprinzessin, machte ihm Avancen? Unmöglich. Das bildete er sich bestimmt nur ein.
Er sah sie an. Nein, das war keine Einbildung. So dringend hatte er es aber auch nicht nötig. Wohlgemerkt, so wie es aussah, hatte sie tolle Titten. Und abgesehen davon, was würde er denn sonst am Abend unternehmen?
»Ich habe eine bessere Idee«, sagte er und schob seinen Stuhl ein Stück näher, jetzt, da er auf vertrautem Terrain war. »Warum trinkst du nicht aus, und wir gehen zu mir?«
Erleichterung und Panik durchfuhren sie. Sie fühlte sich ausgesprochen zittrig, zugleich aber seltsam frohlockend.
Olivers Wohnung lag in der Upper East Side, auf der eleganten Seite des Parks, und das Taxi setzte sie in, wie es Ella vorkam, atemberaubender Geschwindigkeit vor dem Haus ab. Während der Fahrt saß sie stocksteif da und stierte nach vorn, während Oliver es sich neben ihr bequem gemacht hatte, mit ihren Fingern spielte und leise vor sich hin summte. Sie hatte ihn – einmal – angesehen und den Blick schnell wieder abgewandt, als ihr aufgegangen war, dass sich unter seiner Jeans, die sich eng über
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