Ein Hauch von Seide - Roman
Erinnerung, die für viele Jahre gut weggepackt worden war, tauchte plötzlich vor ihr auf, die Erinnerung an einen anderen Jungen mit demselben dunklen Haar und derselben Haltung – Luc. Erstaunlich, wie die Erinnerung so etwas verwahren konnte. Eigentlich hätte ihr Gehirn zu unreif gewesen sein müssen, um es zu registrieren, denn sie konnte damals höchstens zwei Jahre alt gewesen sein. Luc war wohl älter gewesen als Robbie jetzt, aber nicht viel.
Robbie, der sie beinahe mit einem finsteren Blick bedacht hatte, setzte plötzlich ein breites Lächeln auf und erklärte begeistert: »Onkel Drogo ist hier«, bevor er über den Rasen auf die beiden Männer zulief, die aus dem Haus kamen.
Ohne ihre Mutter anzusehen, sagte Emerald: »Er sieht aus wie Luc.«
»Ja«, pflichtete Amber ihr bei.
Das Gesicht immer noch von ihrer Mutter abgewandt fuhr Emerald bissig fort: »Dann ähneln sie etwa ihm, oder? Dem Maler?«
Amber atmete langsam aus, zuckte vor der Bitterkeit in Emeralds Worten zurück. »Eigentlich nicht. Luc hat Robert sehr ähnlich gesehen, wahrscheinlich, weil er sich einige Eigenarten von ihm abgeguckt hat. Jean-Philippes Haar war dunkel, aber seine Augen auch. Luc hatte, wie Robbie, blaue Augen. Luc hat Robert angebetet und ihn in allem nachgeahmt.«
Emerald, die Robbie auf sich zukommen sah, auf der einen Seite von Jay, auf der anderen von Drogo flankiert, erstarrte jäh, als ihr aufging, dass Robbie dieselben langen Schritte machte wie Drogo.
Widerstreitende Gefühle kämpften in ihr.
»Mummy, muss ich wirklich mit nach London?«, wollte Robbie wissen, als die drei bei Amber und Emerald waren. »Onkel Drogo hat nämlich lauter aufregende Sachen vor, zum Beispiel wandern gehen und Fossilien suchen und so.«
»Das können wir auch in London, Junge«, versicherte Drogo Robbie. »Wenn du willst, gehen wir ins Naturkundliche Museum …«
»Ja. Und zu Madame Tussaud?«
Emerald wollte Drogo gerade darauf hinweisen, dass er nicht das Recht hatte, Verabredungen mit ihrem Sohn zu treffen, ohne sie vorher um Erlaubnis zu fragen, doch bevor sie dies tun konnte, wandte Drogo sich ihr zu und fragte: »Bist du mit dem Auto gekommen oder mit dem Zug?«
»Mit dem Zug«, antwortete sie scharf.
»Wie wäre es, wenn ihr mit mir im Auto zurückfahrt? Ich wollte sowieso morgen zurück.«
»Im neuen Bentley?«, fragte Robbie aufgeregt, und Emerald wusste, dass es hoffnungslos wäre, die Einladung ausschlagen zu wollen. Abgesehen davon war es lächerlich, dass sie das Gefühl hatte, sie müsste auf jeden Fall verhindern, dass sie in Drogos behaglichem Bentley nach London zurückchauffiert wurde.
48
»Ach, komm schon, Janey, das war doch nichts.«
Es war zehn Uhr am Montagmorgen, und sie waren in Janeys Büro. Janey hatte weder viel geschlafen noch viel gegessen, seit sie Cindy und Charlie miteinander im Bett erwischt hatte, obwohl John sie freundlich zu überreden versucht hatte. Sie hatte immer noch Kopfschmerzen vom vielen Weinen. Cindy dagegen wirkte, was die ganze Sache anging, nicht nur völlig entspannt, sondern fast ein wenig amüsiert.
»Nichts?«, fuhr Janey empört auf. »Wie kannst du sagen, es wäre nichts, wenn ich dich mit meinem Freund im Bett erwische?«
»Weil nichts war. Okay, Charlie und ich sind uns am Freitagabend zufällig über den Weg gelaufen, und am Ende bin ich mit zu ihm gegangen, und eins hat zum anderen geführt, und wir sind zusammen im Bett gelandet. Na und? Ich weiß ehrlich nicht, warum du dich darüber so aufregst. Der gut aussehende Mann, den du am Samstag mitgebracht hast, ist ein Freund von dir, richtig, und ich wette, ihr zwei habt auch schon die Koje geteilt.«
»Haben wir nicht«, fuhr Janey auf. John sah gut aus und war nett, aber irgendwie hatte sie ihn noch nie als potenziellen Liebhaber betrachtet. Er war für sie immer nur John gewesen.
»Ganz schön dämlich«, versetzte Cindy und zuckte die Achseln. »Warum vergessen wir den Samstag nicht einfach, Janey? Du machst da wirklich aus einer Mücke einen Elefanten. Und irgendwie machst du dich auch ganz schön lächerlich, wenn ich das so sagen darf.«
»Da kann ich dir nur zustimmen«, fuhr Janey sie an. »Mit Charlie habe ich mich wirklich lächerlich gemacht.«
»Um Charlie und mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Charlie gehört dir. Was passiert ist, bedeutet weder ihm noch mir etwas. Wenn du dich nur beruhigen und aufhören würdest, dich zu benehmen wie eine Provinzkuh, und dich daran erinnern
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