Ein Hauch von Seide - Roman
ein Kind die Liebe beider Eltern brauchte und die Sicherheit, die damit einherging, dass beide Eltern zusammen waren, hatte sie die Gelegenheit, mit Brad eine Affäre zu haben – die womöglich am Ende dazu geführt hätte, dass ihre Ehe auseinandergegangen wäre –, verstreichen lassen.
Oliver hatte sie nie nach Brad gefragt, aber warum hätte er das auch tun sollen? Er liebte sie schließlich nicht. Irgendwie hatte das bisher keine Rolle gespielt. Sie waren nicht das einzige erfolgreiche Paar in Manhattan, dessen Ehe eher auf praktischen Erwägungen beruhte als auf Liebe. Doch bisher hatte Oliver auch keine andere geliebt.
Ella konnte sich noch ganz genau an den Augenblick erinnern, als ihr aufgegangen war, dass Oliver das unglaublich attraktive Mannequin, das er für Vogue fotografiert hatte, nicht nur bumste, sondern dass er sich tatsächlich in die junge Frau verliebt hatte. Es war am Weihnachtsmorgen gewesen, als sie ihn unabsichtlich bei seinem heimlichen Telefonat mit ihr gestört hatte. Wenn er sie am Weihnachtstag anrief, einem Tag, der ihnen seit Olivias Geburt heilig war, dann musste er sie lieben. Nicht dass Ella ihn danach gefragt hätte. Es hätte keinen Sinn. Ihre Ehe war ein zivilisiertes Arrangement, in dem Beschuldigungen wegen Untreue fehl am Platze waren. Jetzt wartete sie einfach darauf, dass er ihr sagte, dass er die Scheidung wolle. Sie konnte ihm natürlich zuvorkommen und ihrerseits die Scheidung verlangen, doch sie wusste, dass Olivia ihr das nie verzeihen würde und sie für die Zerstörung ihrer Familie verantwortlich machen würde, und das wollte sie nicht.
Sie ging in die Küche, um sich eine Tasse Tee zu machen, wie sie es immer tat, wenn sie spät nach Hause kam. Am Teekessel lehnte eine Nachricht in Marias Handschrift. Als Ella sie das erste Mal las, weigerte ihr Gehirn sich, ihren Inhalt zu begreifen.
Mit zitternder Hand griff sie nach dem Zettel und las ihn noch einmal. Ihr Vater hatte einen Herzinfarkt gehabt und lag im Krankenhaus. Nein, das war unmöglich. Sie war im Januar zu einem Treffen nach England geflogen, um über die Möglichkeit zu diskutieren, in Großbritannien einen Ableger des New York Magazine auf den Markt zu bringen, und da hatte sie ihn gesehen. Sie hatte Olivia mitgenommen, und ihr Vater war gesund und munter gewesen.
Drogo hatte angerufen, doch als Ella zurückrief, ging niemand dran, also versuchte sie es in Fitton Hall. Ihr Herz schlug wild gegen ihre Rippen, als John ihr bestätigte, dass ihr Vater schwer krank war und auf der Intensivstation lag.
Sie leitete eine erfolgreiche Zeitschrift, es gab also keinen Grund, in Panik zu verfallen, nur weil sie sich einen Transatlantikflug buchen musste, doch ihre Hände zitterten genau wie ihre Stimme, als sie telefonisch die Vorkehrungen traf, die sie nach Hause an das Krankenbett ihres Vaters bringen würden.
Es hatte keinen Sinn, Olivia zu wecken, obwohl sie natürlich Maria in ihre Pläne einweihen und ihr eine Nachricht für Oliver geben musste, der irgendwo auf einem Shooting für eine Zeitschrift war und wohl erst in einigen Tagen zurückkehren würde.
Ihr Vater war krank, lag vielleicht sogar im Sterben. Es kam ihr unmöglich und auch ein wenig lächerlich vor, dass sie, die zwanzig Jahre lang in New York ihr eigenes Leben gelebt hatte, sich plötzlich so verletzlich und beraubt fühlte, so sehr wie ein Kind, das Angst hat, verlassen zu werden. So schrecklich allein.
59
Janey schoss von ihrem Stuhl im Wartezimmer hoch, als die Tür aufging, und ihre Wangen röteten sich vor Erleichterung, als sie Emerald sah. Sie hatten sich nie besonders nahegestanden, doch sie war, seit John gegangen war, um nach Fitton Hall zurückzukehren, seit Stunden allein hier. Er hatte ihr versprochen, so schnell wie möglich zurückzukommen, und die Angst um ihren Vater und um ihre und Johns Zukunft lastete mit jeder Minute schwerer auf ihr. Sie zögerte, doch dann ließ sie sich von ihren Gefühlen überwältigen. Sie und Emerald waren zusammen aufgewachsen, sie hatten eine gemeinsame Familiengeschichte, und das bedeutete Janey jetzt im Augenblick sehr viel mehr als alle Differenzen.
»Emerald.« Sie eilte zu ihrer Stiefschwester und brach in Tränen aus.
Emerald wusste nicht, wer von beiden überraschter war, als sie auf Janey zutrat und sie fast beschützend in die Arme nahm, bevor sie sie fragte: »Was ist los?«
»Nichts«, schniefte Janey unter Tränen. Wer hätte gedacht, dass es so eine beruhigende Wirkung
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