Ein Hauch von Seide - Roman
sein, dass er in seiner Verbitterung Zuflucht zum Alkohol genommen hatte? Wer ahnte schon, was einen Menschen im Innersten antrieb?
In Wirklichkeit wusste sie, dass ihre Schuldgefühle berechtigt waren. Sie war schuldig, denn sie hatte Pete aus dumpfer Verzweiflung geheiratet, weil sie gedacht hatte, sie hätte Josh verloren. Sie war schuldig, denn als Josh ihr erklärt hatte, er liebe sie, hatte sie sich gewünscht, sie wäre die Ehe mit Pete nicht eingegangen. Unter der Last dieser Schuld war sie sich vorgekommen wie eine Diebin, die jemandem etwas gestohlen hat. Sie hatte Pete geheiratet, weil sie Angst gehabt hatte, mit dem, was sie war und was sie verloren hatte, allein dazustehen. Sie hatte ihn benutzt, damit er ihr eine neue Identität gab, von der sie gedacht hatte, sie würde sie beschützen – natürlich nicht bewusst, aber genau das hatte sie getan. Niemals hatte sie Pete wissen lassen, dass sie Josh noch liebte, nicht ein Mal hatte er angedeutet, dass er es ahnte, doch im Hinterkopf war sie sich immer der Schuld bewusst, dass sie ihm nicht geben konnte, worauf er durch die Ehe einen Anspruch hatte, denn das hatte sie schon Josh gegeben. Sie hatte versucht, es wiedergutzumachen, indem sie sich ihm ganz gewidmet, ihn zum Zentrum ihres Daseins gemacht hatte, doch es war ein leeres Leben. Aus diesem Grund konnte sie Pete keinen Vorwurf daraus machen, dass er trank. In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte er versucht, es aufzugeben. Zweimal war er freiwillig in eine Privatklinik gegangen, um eine Entziehungskur zu machen. Beim zweiten Mal hatte er solche starken Anfälle bekommen, dass das Personal gedacht hatte, er würde sterben.
Doch er war nicht gestorben.
Allerdings brachte er sich seinem Arzt zufolge langsam um. Zerstörte sich langsam, traf es, wie Rose fand, besser. Zerstörte langsam, schmerzhaft, unbarmherzig seinen Körper und seinen Geist. Und sie musste es hilflos und verängstigt mit ansehen.
Nach seinem ersten Entzug waren sie nach Hongkong gefahren, um Urlaub zu machen. Es sollte ein Neuanfang sein. Pete hatte es vorgeschlagen. Er hatte ihr die Gelegenheit geben wollen, ihre chinesische Seite zu finden, doch in Hongkong hatte sie sich noch mehr als Außenseiterin gefühlt als in England. Hier hatte sie herausgefunden, dass die ungeschriebenen Gesetze, die nicht nur die Weißen von den Asiaten trennten, sondern auch die vielen Klassen innerhalb der jeweiligen Gruppen, sehr komplex waren und dass man mit aller Gewalt an ihnen festhielt. Für jemanden wie sie – mit ihrem wohlhabenden westlichen Hintergrund und ihrer Bildung und dem Blut ihrer Mutter, die der letzte Dreck gewesen war, in ihren Adern gab es keinen fest definierten Platz. Man hatte sie mit einer Mischung aus Argwohn und Verachtung behandelt, und sie hatte nichts von der Mutter wiedergefunden, die sie als Baby verloren hatte.
Anders als ihr Vater war Pete nicht gewalttätig, wenn er betrunken war. Er zog sich nur in sich selbst zurück, an einen Ort, wo er sich, wie er in seltenen nüchternen Augenblicken eingestand, wohl fühlte, auch wenn es ihn mit der Zeit zerstören würde.
Die Nervenenden in seinen Händen und Füßen waren inzwischen so geschädigt, dass er kaum noch gehen oder etwas festhalten konnte, seine Leber war nahezu zerstört. Er lag oben in dem Zimmer, wo Rose es ihm so behaglich wie möglich gemacht hatte. Es konnte Wochen oder Monate dauern, niemand wusste es.
Sie konnte ihn nicht unbeaufsichtigt lassen, nicht einmal für einige Stunden, denn wenn sie ihn alleinließ, versuchte er trotz seines gebrechlichen Zustands auszugehen – um zu trinken und den Trost und die Gesellschaft zu suchen, nach denen es ihn verlangte. Manchmal überlegte Rose, ob es nicht netter wäre, ihn einfach gehen zu lassen, doch die Angst, er könnte allein und ohne eine Menschenseele sterben, die sich um ihn kümmerte, verbot es ihr.
Als das Telefon läutete, fuhr sie zusammen.
Das war natürlich nicht Josh. So früh am Morgen würde er nicht anrufen. Er würde überhaupt nicht mehr anrufen, erinnerte sie sich, denn sie hatte es ihm untersagt.
Es war ein Schock gewesen, als Josh im Jahr zuvor wieder in ihr Leben gekommen war, als er einfach vor der Tür gestanden und verkündet hatte, er habe beschlossen, seine Friseursalons in New York aufzugeben und nach Hause zurückzukehren.
Sie hatte nicht vorgehabt, sich auf ihn einzulassen. Doch irgendwie war sie nicht auf der Hut gewesen, und es hatte nicht lange gedauert, da hatte sie
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