Ein Hauch von Seide - Roman
Schließlich hatte Emeralds verstorbener Vater bei ihnen in hohem Ansehen gestanden, und er und Emeralds Mutter hatten eine gesellschaftlich herausragende Stellung innegehabt, waren überall eingeladen worden und hatten, wenn man Tante Beth glauben wollte, jeden gekannt, den man kennen musste. Und sobald sie da waren, würde der Herzog sie um einen Tanz bitten, und dann …
Die Ersten gingen schon, Mütter und Anstandsdamen bugsierten die Debütantinnen dem Ausgang zu, während sie im Kopf rasche und komplizierte mathematische Berechnungen darüber anstellten, wie wahrscheinlich es wohl war, die an diesem Tag anstehenden Gesellschaften alle zu schaffen. Mittagessen wurden von Teegesellschaften abgelöst, gefolgt von Cocktailstunden und formellen Abendessen, abendlichen Partys, Shows und, wenn eine junge Frau das Glück hatte, einen männlichen Begleiter zu haben, vielleicht sogar einem Ausflug in einen Nachtclub.
Tante Beth war von dem Tisch mit den anderen Anstandsdamen aufgestanden und rief sie jetzt zusammen.
Emerald trank ihren zu süßen Rosé aus und stand auf, um zu gehen.
»Nein, bitte, Sie können unmöglich gehen, bevor ich Gelegenheit hatte, mich Ihnen vorzustellen und Ihnen zu sagen, wie sehr ich Sie bewundere. Und wie schön Sie sind. Das schönste Mädchen der Welt. Eine liebliche Traumgestalt … ein Engel.«
Emerald wollte schon ein gleichgültiges, womöglich sogar hochnäsiges Gesicht aufsetzen, doch der Schock und die Missbilligung in Gwendolyns Miene ließen sie ihren Bewunderer liebenswürdig anlächeln, wohl wissend, dass Gwendolyn sich darüber noch mehr empören würde.
»Ein Mann kann sich nicht selbst einer jungen Frau vorstellen, die nicht in Begleitung ist. Das ist laut Protokoll nicht korrekt«, neckte sie ihn, doch mit einem warnenden Unterton in der Stimme, der ihm verriet, dass sie zu den jungen Frauen gehörte, die von seinem Geschlecht – selbst von einem Kronprinzen – erwarteten, ihnen mit Respekt zu begegnen.
Doch der Kronprinz schüttelte den Kopf und bedachte sie mit einem Blick brennender Intensität, als er sagte: »Bitte, weisen Sie mich nicht ab. Ich wäre untröstlich. Ich lege Ihnen mein Herz und mein Leben zu Füßen. Zwischen uns ist kein Protokoll vonnöten. Wir sind, glaube ich, verwandte Seelen, es war uns bestimmt, einander zu begegnen. Ich fühle es hier, tief in mir.« Alessandro schlug sich mit der Faust auf die Brust und flehte sie mit seinem Blick an, ihn anzuhören.
Emerald war belustigt. Sicher, sein Betragen war schrecklich theatralisch und fremdländisch, doch er sah wirklich außerordentlich gut aus und war obendrein ein Kronprinz. Wer von königlichem Geblüt war, der durfte sich anders betragen.
Er sah auf jeden Fall viel besser aus als der Herzog von Kent: groß und breitschultrig und mit einem glühenden Blick, bei dem sie am liebsten gelacht hätte und bei dem ihr doch gleichzeitig ein köstliches kleines erregtes Prickeln den Rücken hinunterlief. Irgendwie war es bei Alessandro auch viel leichter, sich vorzustellen, dass er sie wie ein Filmheld an seine Brust drückte und ihr Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen bedeckte, als bei dem Herzog von Kent. Alessandros Leidenschaftlichkeit war lächerlich und gleichzeitig köstlich schmeichelnd und umso angenehmer, als Gwendolyn sie so augenscheinlich missbilligte – dabei war sie natürlich bloß neidisch. Schließlich würde kein gut aussehender Kronprinz ihr je zu Füßen sinken und ihr seine unsterbliche Leidenschaft gestehen, oder?
»Wir sind Fremde. Sie kennen nicht einmal meinen Namen.«
»Ich kenne Ihr Herz. Es ist rein und gut und hat mein Herz erobert. Sie sind so schön«, hauchte er inbrünstig.
»Kommt, ihr zwei.«
Tante Beth wartete auf sie, und Gwendolyns geschürzte Lippen verrieten ihre wachsende Verärgerung.
Emerald wollte sich eben abwenden, doch dann sah sie eine neue Möglichkeit, Gwendolyn zu ärgern.
Sie legte ihrer Patin die Hand auf den Arm und erklärte ihr mit vorgetäuschter Unschuld und Naivität: »Tante Beth, Seine Hoheit, Kronprinz Alessandro, ist verzweifelt, weil niemand hier ist, der uns einander vorstellen kann. Ich bin mir sicher, du hast irgendwann einmal seine Mutter kennengelernt, denn sie ist mit einer der Hofdamen der Königin verwandt.«
Emerald wusste, dass die magischen Worte »Seine Hoheit« und »Königin« reichen würden, damit ihre Patentante Alessandro mit einem anerkennenden Blick bedachte.
»Das stimmt«, pflichtete er ihr bei,
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