Ein Hauch von Seide - Roman
Assistentinnen waren ausgeschickt worden, um zu sehen, ob so kurzfristig noch Ersatz gefunden werden konnte.
Jetzt, da sie auf dem Bahnsteig waren, sah sich Ella ängstlich nach ihrer Chefin um und atmete erleichtert auf, als sie sie sah. Sie sollte Material für einen Artikel über den Umbruch der gesellschaftlichen Szene in Venedig sammeln. Die alte Garde eleganter Besucher, wie Coco Chanel und ihresgleichen, wurde abgelöst von solchen wie der Fürstin Gracia Patricia von Monaco, millionenschweren griechischen Reedern und der britischen Oberschicht, Aristokraten und hübschen Society-Schönheiten.
Ella reiste in vernünftiger Kleidung. Über ihrem schlichten Pullover und Rock trug sie einen Tweedmantel, doch in Reverenz vor der besonderen Gelegenheit hatte sie einen kleinen Hut mit einem hübschen Schleier auf ihre windzerzausten Locken gesetzt. Mit einem Gefühl tiefer Befriedigung hatte sie diese Woche zum ersten Mal gespürt, dass sie, wenn sie sich ins Bett legte, tatsächlich ihre Rippen ertasten konnte. Abzunehmen war jetzt, da sie wusste, wie es ging, zur aufregenden Herausforderung geworden. Sie hatte über sechs Kilo verloren, und sie konnte noch viel mehr abnehmen, wenn sie wollte.
Zu Ellas Erleichterung kam in dem Augenblick, da sie die Feature-Redakteurin erspähte, endlich ein Gepäckträger herbei, um ihr die vielen Koffer abzunehmen. So war sie frei, an die Seite ihrer Chefin zu eilen, ihre Handtasche in der einen Hand und in der anderen eine tragbare Schreibmaschine, die sie, wie man ihr gesagt hatte, keinen Augenblick aus den Augen lassen durfte.
Ollie überblickte das Gewimmel auf dem Bahnsteig und verzog das Gesicht. Er hasste Aufnahmen für Vogue , doch sie hatten gewisse Vorteile, etwa das Geld und die Gelegenheit, mit den Mannequins zu flirten und, wenn er Glück hatte und sie willig waren, auch noch ein bisschen mehr.
Er hatte keine Zeit gehabt, sich zu rasieren, sondern war nach dem Anruf in der Redaktion nur rasch unter die Dusche gesprungen, sodass seine zu langen Haare immer noch ein wenig feucht waren, wie das weiße T-Shirt, das er übergestreift hatte, ohne sich vorher richtig abzutrocknen, bevor er seine Jeans wieder angezogen hatte.
Seine abgewetzte Lederjacke würde ihm den Frühlingswind vom Leib halten, und er hatte sogar noch saubere Unterwäsche, Socken und ein T-Shirt gefunden und alles in seine Kameratasche gestopft, bevor er seine Ausrüstung zusammengesucht hatte und zum Bahnhof gerannt war.
Die leitende Moderedakteurin begrüßte ihn mit einem hasserfüllten Blick und der Drohung, ihn nie wieder zu engagieren, doch er tat ihre Verärgerung mit einem Achselzucken und einem spöttischen Lächeln ab, überzeugt, sie würde sein Zuspätkommen vergessen, sobald sie seine Fotos sah.
Er musterte die Mannequins mit erfahrenem, kritischem Blick – weniger als Mannequins denn als potenzielle Bettgespielinnen. Die Rothaarige gefiel ihm am besten. Sie hatte etwas an sich, was ihn vermuten ließ, dass sie wusste, worauf es ankam. Als er sich abwandte, fiel sein Blick auf Ella, die auf ihre Chefin zuging, und sein Lächeln wurde breiter.
Sie hatten einige Zusammenstöße gehabt seit dem Abend, als er sie im Taxi gesehen hatte, und inzwischen hatte er wahre Freude daran, sie auf den Arm zu nehmen, umso mehr, als es ihr nie ganz gelang, ihre Abneigung gegen ihn zu verbergen.
Er warf sich seine Tasche über die Schulter, ging zielbewusst auf sie zu und versperrte ihr, indem er sich vor ihr aufbaute, den Weg zu ihrer Chefin.
»Schönen Tag, Prinzessin.«
O nein, Oliver Charters! Ella verließ der Mut. Sie verabscheute den anmaßenden Kerl. Er war arrogant und unglaublich von sich eingenommen, wozu er keinen Grund hatte, und tat, als wäre er Gott weiß was Besonderes. Er setzte sich über die Regeln hinweg, die andere Menschen – Menschen wie sie – automatisch befolgten, hinterließ Chaos, wann immer er in der Redaktion auftauchte, flirtete unablässig mit den Mannequins und tat im Allgemeinen so, als drehte sich die Welt allein um ihn.
Und was diesen lächerlichen Spitznamen anging, den er ihr gegeben hatte … Ihr Gesicht brannte vor Zorn.
»Ich habe Sie schon mal gebeten, mich nicht so zu nennen«, erinnerte sie ihn mit zusammengebissenen Zähnen.
»Es passt aber zu Ihnen«, erklärte Ollie forsch.
Das Gedränge um sie herum löste sich ein wenig auf, und Ella ergriff die Gelegenheit und trat rasch um ihn herum, doch sein spöttisches Lachen folgte ihr noch, als
Weitere Kostenlose Bücher