Ein Hauch von Seide - Roman
tatsächlich behandelte wie ihr eigenes Kind. Ihre Mutter hatte immer schon viel Aufhebens um Rose gemacht und ihr mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als sie Emerald je hatte zuteilwerden lassen, dabei war die ihre eigene Tochter. Das würde Emerald ihrer Mutter nie verzeihen. Niemals. Ihre Nanny und ihre Urgroßmutter hatten immer gesagt, Rose sei ein Niemand, ein Kind, das man dem Tod hätte überlassen sollen. Emerald war dagegen die Tochter eines Herzogs, der einer der reichsten Männer Englands gewesen war. Eines ehrenwerten, heroischen Mannes, den jeder bewundert hatte. Im Gegensatz zu Roses Vater, der ein Taugenichts und ein Säufer gewesen war. Ihre Urgroßmutter hatte immer gesagt, Onkel Greg würde nur so viel trinken, weil er sich wegen Rose so schämte. Von Rechts wegen hätte Emeralds Mutter dasselbe empfinden müssen, statt Rose zu behandeln, als wäre sie etwas Besonderes – als wäre sie mehr wert als Emerald. Das war natürlich unmöglich. Emerald glaubte, dass ihre Mutter nur so viel Aufhebens um Rose machte, weil sie neidisch war auf Emerald. Neidisch darauf, dass Emerald als Tochter eines Herzogs geboren worden war, der seine Tochter so sehr geliebt hatte, dass er ihr praktisch sein ganzes Geld vermacht hatte. Ein Vermögen …
Wenn sie gekonnt hätte, hätte Emerald als Kind schon verlangt, in einem der Häuser ihres Vaters leben zu dürfen, wie es sich für ihren Stand schickte, und nicht in Denham mit ihrer Mutter, Jay und den anderen.
Sie hatte sich rundheraus geweigert, dieselbe Schule zu besuchen wie die anderen. Ihren Debütantinnenball und ihre Vorstellung bei Hofe hatten die anderen als altmodische Rituale betrachtet, die man der Form halber hinter sich brachte, doch Emerald hatte sich absichtlich so lange damit zurückgehalten, bis sie hinterher ihren eigenen Ball haben konnte, ohne ihre Stief- und Halbschwestern. Und sie bestand darauf, die Saison so zu begehen wie in den Erzählungen ihrer Urgroßmutter, als die noch klein gewesen war. In Blanche Pickfords Adern mochte kein blaues Blut geflossen sein, doch sie hatte gewusst, wie wichtig es war, und dieses Wissen hatte sie an Emerald weitergegeben.
Rose besaß weder einen Adelstitel noch ein eigenes Vermögen, und Rose würde auch nicht Debütantin der Saison sein und einen Mann heiraten, der sie noch bedeutender machen würde. Dann konnte Emeralds Mutter sie nicht mehr übersehen zugunsten eines Görs aus den Gossen von Hongkong. Dann konnte sie auch nicht mehr darauf bestehen, Emerald und Rose wären einander ebenbürtig. Emerald war fest entschlossen, im Wettstreit mit ihrer Geschlechtsgenossin immer die Nase vorn zu haben.
Immer.
Der Mann, der sie beobachtet hatte, stand auf und machte Anstalten, zu ihr herüberzukommen. Emerald maß ihn mit berechnendem Blick. Ihr Bewunderer war nicht sehr groß, sein Haar war ein wenig schütter. Geringschätzig wandte Emerald ihm den Rücken zu. Nur das Beste vom Besten war gut genug für sie: der größte, am besten aussehende, reichste Mann mit dem höchsten Adelstitel. Ihre Stiefschwestern, die unbedingt arbeiten gehen wollten wie gewöhnliche kleine Ladenmädchen, hatten gar keine andere Wahl, als einen langweiligen, gewöhnlichen Mann zu heiraten, während Rose natürlich Glück hätte, wenn sie überhaupt einen anständigen Mann fände, der bereit wäre, sie zu heiraten. Ganz anders Emerald. Sie konnte und musste den begehrtesten Gemahl bekommen, den es gab.
Sie hatte sich ihren Zukünftigen sogar schon ausgesucht. Für sie gab es nur einen: den älteren Sohn von Prinzessin Marina, den Herzog von Kent, der nicht nur ein einfacher Herzog war wie ihr Vater, sondern sogar von königlichem Geblüt. Emerald sah sich schon vor sich, umgeben vom eifersüchtigen Geschnatter der Brautjungfern, die alle grün waren vor Neid, weil sie den begehrtesten Junggesellen der Saison abbekam.
Sie würden sehr gefragt sein und überall eingeladen werden, die Männer würden sie ansehen und ihren Gemahl beneiden, die Frauen würden sie ansehen und vor Neid auf ihre Schönheit schier platzen. Emerald hatte vor, sich ganz von ihrer Familie loszusagen. Sie wollte auf keinen Fall noch irgendetwas mit Rose zu tun haben. Von einem Herzog von königlichem Geblüt konnte man nicht erwarten, dass er gesellschaftlichen Umgang mit jemandem wie Rose pflegte, und da ihre Mutter so große Stücke auf Rose hielt, würde es ihr sicher nichts ausmachen, von Emeralds Gästeliste ausgeschlossen zu werden, damit sie Rose
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