Ein Hauch von Seide - Roman
Ambers Schuldgefühle noch, denn hatte Emerald nicht recht mit ihren Anschuldigungen? War nicht sie verantwortlich für die Persönlichkeit ihrer Tochter, entweder durch die Gene, die sie ihr vererbt hatte, oder durch die traumatischen Monate, in denen sie sie unter ihrem Herzen getragen hatte, und ihre schwierige Geburt?
Waren diese ersten Wochen und Monate in ihrem Bauch dafür verantwortlich, dass Emerald sie vom ersten Atemzug an zu hassen schien? War der Gedanke wirklich zu abstrus, dass ihre Tochter irgendwie gespürt hatte, wie ängstlich Amber gewesen war, wie verzweifelt sie sich gewünscht hatte, sie hätte sie nicht empfangen? Amber wusste es nicht, doch die Bürde ihrer Schuldgefühle lastete schwer auf ihr.
26
»Emerald.«
Obwohl sie wach war, tat Emerald, als hörte sie nicht, dass ihre Mutter mit einem Tablett mit Tee ins Schlafzimmer gekommen war.
»Dein Vater, Jean-Philippe …«, setzte sie an und setzte sich aufs Bett.
Emerald schoss hoch.
»Nenn ihn nicht so. Niemals werde ich ihn als meinen Vater anerkennen.«
»Ich bin im Besitz einiger seiner Bilder, falls du sie sehen möchtest. Er hat sie in meine Obhut gegeben. Sie sollten irgendwo hängen, wo man sie sehen kann, und nicht auf dem Speicher weggesperrt sein. Sie sind sehr gut. Als du klein warst, dachte Robert, du könntest sein Talent geerbt haben; du hast so gern gezeichnet, weißt du noch?«
»Ich habe nichts von diesem … diesem Proleten in mir, hast du gehört? Nichts. Nein, fass mich nicht an«, fuhr sie auf, als Amber nach ihrer Hand greifen wollte. »Das verzeihe ich dir nie. Niemand darf je davon erfahren. Hast du … bist du …? Gott sei Dank bist du nicht katholisch, denn wenn du schniefend gebeichtet hättest, was du getan hast, wüsste wohl die ganze Welt davon. So eine bist du doch.«
Amber wusste, sie sollte Emerald zurechtweisen und sie daran erinnern, dass sie ihre Mutter war und Emerald noch keine einundzwanzig, doch sie konnte nicht. Emerald hatte sie ihr ganzes Leben lang mit Hochmut behandelt, ihre Willensstärke hatte alles aufgebauscht, was sie sagte oder tat.
»Wenn Alessandro dich liebt …«, setzte sie zögernd an, denn sie wollte unbedingt helfen.
»Red keinen Blödsinn. Hier geht es nicht um Alessandro, sondern um seine Mutter. Wie kann sie es wagen, Nachforschungen über mich anzustellen, herumzuschnüffeln und ihre Nase in mein Leben zu stecken? Wie konntest du nur so dumm sein, Mutter, nicht dafür zu sorgen, dass niemand je hinter die Geschichte kommt. Ich muss jetzt den Preis für deine Dummheit zahlen.«
Amber war zu erschöpft, um sich zu verteidigen, und da sie wusste, dass es sinnlos war, mit Emerald reden zu wollen, stand sie auf und verließ den Raum.
Emerald saß mit versteinerter Miene in dem Erste-Klasse-Abteil des Zuges nach London. Irgendwann, irgendwie würde sie es Alessandros Mutter heimzahlen – mit Zins und Zinseszins. Sie senkte den Blick, und dieser fiel auf ein Stäubchen auf ihrem Mantel. Ein winziger bunter Farbfussel, so strahlend wie der Sommerhimmel von St. Tropez auf dem kühlen Beige ihres Mantels … Sie fixierte ihn und fegte ihn mit einem kalten, harten Lächeln fort.
In Denham hockte Amber auf den Fersen auf dem staubigen Dachboden, die Hände vors Gesicht geschlagen, und weinte.
»O nein, Jay. O nein!«
Sie hatte die mürrische Emerald zum Zug nach London gebracht, und kurz nachdem sie nach Denham zurückgekehrt war, hatte sie plötzlich der Impuls überkommen, auf den Dachboden zu gehen und sich Jean-Philippes Bilder anzusehen.
»Vielleicht, um mich zu vergewissern, dass weder er noch ich so schrecklich waren, wie Emerald meint«, hatte sie zu Jay gesagt, als sie ihm erklärte, was sie vorhabe.
Natürlich war Jay mit hinaufgegangen. Er sorgte sich um seine Frau. Die Beziehung zwischen ihr und Emerald war immer schwierig gewesen, doch er bezweifelte, dass Amber sich von diesem Schlag je wieder erholen würde.
Sie hatte sich die Bilder sehr lange nicht mehr angesehen; das war nicht notwendig. Für Amber waren sie immer etwas gewesen, was ihrer Obhut anvertraut war, die greifbare Erinnerung an den Mann, der sie mit so viel Leidenschaft und Talent gemalt hatte.
Der aufgewühlte Staub hatte seine eigene Geschichte erzählt, genau wie die Packkiste, die gedankenlos offen gelassen worden war.
Die Messerspuren, die tief in die Farbschichten und die Leinwand eingedrungen waren, sprachen von grausamer Zerstörungswut.
»Emerald …«, flüsterte Jay, als
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