Ein Hauch von Seide - Roman
zeige sie dir«, bot Jay an.
»Nein!«
»Er war sehr mutig, Emerald. Er hat Robert einmal das Leben gerettet, und dadurch auch deins«, fuhr Amber fort.
»Hat … hat er … sind mein Vater und Luc wirklich bei einem Unfall ums Leben gekommen, oder war es, weil er dir auf die Schliche gekommen war und den Gedanken nicht ertrug, dass der Bastard eines anderen ihn beerbt?«
»Nein!« Ambers Stimme war rau vor Schmerz. »Nein. Robert hat Luc angebetet, alle haben gesagt, wie ähnlich sie sich wären, wie sehr Vater und Sohn. Luc hat Robert geliebt. Sie haben sich sehr nahegestanden.«
Nah, im Leben wie im Tod. Vor ihrem geistigen Auge sah Amber die beiden noch vor sich wie an jenem schrecklichen Morgen, als sie in dem kleinen ländlichen Krankenhaus angekommen war, wohin man sie gebracht hatte. Die wunderbare Oberschwester hatte dafür gesorgt, dass sie so natürlich wie möglich aussahen. Lucs ungezeichnetes Gesicht seinem Vater, Robert, zugewandt … Amber erinnerte sich daran, wie sie aufgekeucht hatte, als sie Robert eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichen wollte und dabei entdeckte, wovor man sie zu schützen versucht hatte – dass Robert förmlich skalpiert worden war, als er sich schützend über den geliebten Sohn geworfen hatte. Seine letzte Handlung, sein letzter Gedanke, seine letzte Liebe hatten Luc gegolten. Kein Kind hätte einen besseren Vater haben können, und eine Frau hätte sich für ihre Kinder keinen besseren Vater wünschen können.
»Vielleicht hat der Herzog gehofft, er könnte ihn in sein Bett holen. So etwas mögen Männer wie er doch, oder?«, verhöhnte Emerald ihre Mutter.
Ambers Gesicht war kreidebleich geworden, die Haut spannte über den Knochen. Jay trat vor und streckte schützend die Hand aus, doch Amber wies ihn mit einer Geste ab.
»Wie abscheulich, so etwas anzudeuten, aber ich verzeihe dir. Du bist verletzt und zornig und verängstigt, also werde ich es noch einmal wiederholen: Robert hat euch beide als seine Kinder geliebt – Luc als seinen Sohn und Erben und dich als seine Tochter. Er hat euch vor dem Schlafengehen Geschichten vorgelesen, hat euren ersten Worten gelauscht, hat euch gehalten und geliebt. Robert war euer Vater.«
»Aber er war nicht der, der mich gezeugt hat. Nicht der, der seinen Schwanz in dich reingesteckt hat und …«
»Das reicht!«, fuhr Jay auf und machte einen Schritt auf Emerald zu.
»Das soll reichen? Warum, weil ich sie aufrege? Himmel noch mal! Findest du nicht, dass ich Grund habe, mich aufzuregen? Findest du nicht, dass ich betroffen bin von dem Dreck, den ich gerade erfahren habe, nämlich dass mein Vater ein gewöhnlicher Verführer war – schlimmer als ein Gigolo, wenn ich Alessandros Mutter glauben darf? Ich hasse dich. Ich hasse dich für das, was du bist und was du getan hast. Du hast mein Leben zerstört. Wegen dir und deiner Hurerei kann die Prinzessin jetzt ihre Ränke schmieden. Ich hätte ihr niemals erlauben sollen, Alessandro ohne mich wegzuschicken.«
Amber sah zu, wie ihre Tochter in der Küche auf und ab ging, dann richtete sie den Blick auf Jay, ihren geliebten Ehemann, ihren besten Freund, der alles über sie wusste – und stets gewusst hatte, was es über sie zu wissen gab. Für Amber war die Beziehung, die Liebe, die sie mit Jay verband, perfekt, sie war genau das, was sie sich auch für ihre Kinder wünschte. Doch Emerald wollte etwas anderes, und als sie ihre Tochter jetzt beobachtete, musste Amber sich traurig eingestehen, dass der Zorn ihrer Tochter nicht aus Liebe zu ihrem Gemahl geboren wurde. Was ihre Schuldgefühle nicht minderte. Amber verstand sehr gut, was eine Frau antrieb, die Ehe ihres Sohnes zu zerschlagen, wenn ihr diese nicht in den Kram passte. Schließlich war ihre Großmutter aus demselben Holz geschnitzt gewesen: Sie hatte versucht, Ambers Eltern auseinanderzutreiben, weil sie Ambers Vater nicht gemocht hatte. »Wenn Jay und Mr Melrose mit Alessandros Mutter reden würden, würde sie vielleicht …«
»Mach dich nicht lächerlich«, versetzte Emerald. »Sie will unsere Ehe annullieren lassen. Ich habe von Anfang an gewusst, dass es ihr nicht recht wäre, wenn Alessandro mich heiratet.« Ihre Miene verhärtete sich. »Aber wenn du nicht wärst, könnte sie nicht das Geringste dagegen unternehmen.«
Emerald kramte in ihrer Handtasche, zündete sich eine Zigarette an und zog gierig daran.
Selbst im Zorn war ihre Tochter schön. Schön, aber kalt und hart, und das verstärkte
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