Ein Haus für vier Schwestern
fühlte sich Dexter ständig zwischen dem Geschäft und den künstlerischen Belangen hin und her gerissen. Durch ihre zwei Jahre Arbeit für die Finanzierung und die Gestaltung von Fremde Wesen verstand Christina, wie sehr Dexter zwischen diesen beiden Welten aufgerieben wurde. Er war kein Durchschnittstyp. Sie hatte gesehen, was er mit einem vernünftigen Budget zuwege brachte, und das hatte sie total beeindruckt. Er konnte es sich einfach nicht leisten, Rücksicht auf die Kunst zu nehmen, wenn es um Bildmaterial eines Amateurfilmemachers ging, das nur auf einem der kleinen lokalen Kabelsender gezeigt werden würde.
Christina folgte Dexter in sein Büro. Er schloss die Tür. Das wunderte sie. Dexters Tür blieb sonst immer offen.
»Was ist los?«, fragte sie.
Er reichte ihr das Blatt. »Ich glaube, wir haben deinen Film.«
Ihr Herz machte seinen Satz. Seit Monaten suchte sie nach Fremde Wesen und las dafür ständig die Beschreibungen der Wettbewerbsbeiträge aller Filmfestivals in den Vereinigten Staaten, Kanada und Mexiko. Randy konnte zwar den Titel ändern, nicht aber den Film an sich. Sie hatte schon überlegt, ob sie Freunde in Tucson fragen sollte, es aber dann als zu riskant verworfen. Alle, die sie kannte, waren mit ihnen beiden befreundet gewesen.
Dexter und ihre Schwestern waren die Einzigen, die wussten, was sie suchte. Und Dexter wusste auch nur davon, weil er sie bei einer Internetrecherche ertappt hatte. Was sie vorhatte, musste in aller Stille erledigt werden. Randy durfte keinen Wind davon bekommen.
Sie sah auf das Blatt und las die Filmbeschreibung, die Dexter auf der Mitte der Seite umkringelt hatte: Gefährliche Grenze. Vierundzwanzig bewegende Stunden aus dem Leben eines illegalen Einwanderers. Sie sah auf die Kopfzeile. Willow Creek Festival in Grants Pass, Oregon. Die Preisverleihung mit Filmvorführung war am 15. Oktober. Ihr blieb nicht viel Zeit.
»Ist er das?«, fragte Dexter.
»Sieht ganz danach aus.«
»Und nun?«
»Ich besorge mir einen Termin bei der Anwältin meines Vaters. Ich will alles hieb- und stichfest machen, bevor ich ihn mir packe.«
»Schaffst du das in einem Monat?«
»Weiß ich nicht, aber ich versuche es.«
Christina folgte Lucys Assistentin. Sie kamen an dem Büro vorbei, in dem sie ihren Vater zuletzt gesehen hatte. Ganz unerwartet spürte sie einen Kloß im Hals.
Die Chance, ihn richtig kennenzulernen, hatte sie vertan. Sie schwankte seitdem zwischen Trauer und Ärger, gab abwechselnd ihm und sich selbst die Schuld dafür. Sie suchte Antworten in den Geschichten auf den CDs und Familienähnlichkeiten bei ihren Schwestern. Sollten sie nur glauben, sie hätte nichts mit ihnen gemein. In vier Monaten könnten sie ihr dann den Rücken kehren und denken, dass sie das so gewollt hätte.
Die Assistentin klopfte leise an Lucy Bürotür. »Miss Alvarado ist da.«
Lucy stand auf und kam um ihren Schreibtisch herum. Wie immer trug sie ein Kostüm und hochhackige Pumps. Christina fühlte sich in ihrer Gegenwart schmuddelig und fehl am Platz. Nicht so sehr wie bei Ginger, aber genug, um den Sitz ihres T-Shirts und ihrer Frisur zu überprüfen.
»Wie schön, Sie wiederzusehen«, sagte Lucy und streckte ihr die Hand entgegen.
Christina hielt das für ihre Standardbegrüßung, doch Lucy klang ziemlich ehrlich. »Nett, dass Sie Zeit für mich gefunden haben.«
Lucy führte sie zu einem Stuhl. »Sie sagten, es wäre wichtig.«
»Ich brauche Hilfe bei einem rechtlichen Problem und wusste nicht, wen ich sonst fragen könnte.«
Lucy setzte sich und lächelte. »Tja, ich hatte schon bessere Empfehlungen. Aber es wird wohl reichen.«
»Mein Vater hat Ihnen vertraut.«
»Um was geht es, Christina?«
Sie erzählte Lucy von Randy und dem Film, den sie zurückhaben wollte.
»Heute habe ich ihn entdeckt – den Film zumindest. Er hat ihn bei einem kleinen Filmfestival in Oregon eingereicht. Wenn er nicht irgendeinen Blödsinn eingebaut hat, wird er gewinnen. Ich will dabei sein, wenn er auftaucht, um den Preis entgegenzunehmen.«
»Muss er das machen?«
»Nein, aber er wird es tun. Randy lebt für die Aufmerksamkeit. Er gehört eigentlich vor die Kamera, nicht dahinter.«
»Sie sagen, Sie hätten Belege dafür, dass Sie den Film sowohl finanziert als auch daran mitgearbeitet haben?«
Christina griff in ihre Tasche und gab Lucy den Stapel Papiere, den sie aus ihrer Wohnung gerettet hatte. »Ich habe auch den Text eingesprochen. Das hat er aber bestimmt
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