Ein Haus für vier Schwestern
»Gibt’s etwas Eiliges?«
»Arthur Stewart will wissen, ob er eure Besprechung verschieben darf. Er wartet immer noch auf die Zahlen aus der Buchhaltung. Und Miss Hawthorne wollte die genauen Zahlen von Selman Electronics, sobald jemand im Büro auftaucht.« Maria lächelte.
»Ich nehme mal an, du hast das weitergeleitet?« Die Zentrale ihrer Versicherung befand sich in Baltimore. Andrea Hawthorne war eine der langjährigen Angestellten, die sich nicht an den Zeitunterschied von drei Stunden zu San Francisco gewöhnen konnten. Sie dachte wahrscheinlich, die seit achtzehn Monaten dort existierende Zweigstelle wäre mit Faulpelzen und Langschläfern besetzt.
»Bob arbeitet daran.«
»Super, danke.« Rachel hängte ihren Mantel in den Schrank und verstaute ihre Handtasche in der untersten Schublade des Schreibtischs. Aus ihrem Geldbeutel fischte sie den USB-Stick mit der vertraulichen Studie, an der sie bis spät in die Nacht gearbeitet hatte. Der Stick war mit einem linierten Zettel umwickelt, der von einem Smilie-Aufkleber zusammengehalten wurde.
Maria legte die Post auf Rachels Schreibtisch. »Kaffee?«
»Tee bitte. Kein Koffein.«
Maria nickte, verließ das Büro und zog die Tür hinter sich zu. Rachel löste den Zettel.
Klopf, klopf.
Wer da?
Isabel.
Isabel?
– Bitte wenden –
Rachel drehte den Zettel um.
Isabel mit dem Zopf.
Ohne Mama?
Das siehst du doch, oder?
Dann aber schnell.
Ziemlich schlecht, ich weiß. Aber was Besseres ist mir nicht eingefallen.
Ich wünsche dir einen wunderbaren Tag, meine Süße.
Bis heute Abend. Alles Liebe, Jeff
Rachel lächelte und klebte den Zettel an ihren Monitor, wo er ihr für den Rest des Tages vor Augen bleiben würde. Wie immer rückte sie mit ihrem Schreibtischstuhl fünfzehn Zentimeter nach rechts, loggte sich mit einer Hand ein, um ihre E-Mails durchzusehen. Mit der anderen Hand blätterte sie ihre Post durch, die Maria bereits geöffnet und nach Wichtigkeit sortiert hatte.
Vor Rachels Bürofenster verbarg dichter Nebel die ganze Stadt bis auf die obersten roten Pfeilerspitzen der Golden-Gate-Brücke. Bis Mittag würde der Nebel verschwunden sein und die glitzernde blaue Bucht vor ihr liegen. Am Anfang war sie fasziniert von dieser Aussicht und den ständig wechselnden Eindrücken von Stadt und Landschaft gewesen. Seit Kurzem musste sie sich aber regelrecht zwingen, sich Zeit für den Blick nach draußen zu nehmen.
Rachel überflog die Absender der E-Mails. Nur einer erschien ihr ungewöhnlich. Connie Helgren. Sie sah Connie fast täglich irgendwo auf dem Gang, aber die lockere Freundschaft von früher schien nicht zu halten. Connie hatte sich mit ihr zusammen nach San Francisco versetzen lassen. Dann war Rachel befördert worden. Sie hatten sich weiterhin verabredet, aber häufig musste Rachel absagen, weil sie andere Termine hatte. Wenn sie sich dann trafen, verliefen die Gespräche förmlich und gekünstelt. Es fehlten das Gelächter und die Scherze, die sie in Baltimore zusammengebracht hatten.
Rachel vermisste diese Treffen. Connie war fast die Freundin geworden, die sie seit der Schulzeit nicht mehr gehabt hatte. Ein ziemlich trauriger Zustand für eine Frau, die in vier Jahren vierzig wurde.
Connies Nachricht war kurz. Sie fragte, ob sie sich nach der Arbeit auf einen Drink treffen könnten, und schlug eine ganz normale Bar in der Nachbarschaft vor. Dort würden sie auf jeden Fall Platz bekommen, und es wäre auch nicht so laut. Rachel mailte, ob sie sich um sechs statt um fünf Uhr dreißig treffen könnten. Die Zusage kam postwendend.
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und lächelte. Woher kam es, dass sie nie zu merken schien, wenn sie eine Person oder eine Sache vermisste? Erst wenn diese Person oder Sache unvermittelt wieder auftauchte, wurde ihr das klar. Nicht sie hatte ihre Beförderung als Hindernis empfunden, sondern Connie. Aber Rachel hatte auch nichts getan, um an diesem Zustand etwas zu ändern.
Rachel war zehn Minuten zu früh dran und ebenso überrascht wie erfreut, dass Connie bereits wartete. Sie stand an einem Tisch hinten in dem schwach beleuchteten Raum und winkte ihr. Vor einem Jahr hätten sie sich noch umarmt. Heute musste ein Lächeln genügen.
»Eine super Idee«, sagte Rachel. »Ich bin so froh …«
Sie wurde vom Kellner unterbrochen. »Was darf ich Ihnen bringen?«
Rachel warf einen Blick auf Connies Getränk. Im Gegensatz zu ihren früheren Treffen war es kein Bier, sondern etwas Härteres. »Ich
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