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Ein Haus in Italien

Ein Haus in Italien

Titel: Ein Haus in Italien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa St Aubin de Terán
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Darauf stand ein angeschlagenes und verblichenes Gemälde der Madonna, eine Vase Wiesenblumen und ein von Gänseblümchen und Ehrenpreis umranktes Kruzifix, das Don Annibale dann emporstreckte.
    Alte Männer in unglaublich steifen Sonntagsanzügen näherten sich dem Bildstock, mit langsamen Schritten unter bunten Schirmen. Einige der Anzüge schienen von allein zu laufen, so sehr waren ihre Träger geschrumpft, am meisten Fleisch aber hatte das Alter von den Knochen unseres Nachbarn Cenci gezehrt. Er hatte das Stadium der Magerkeit lange hinter sich gelassen, er war ein Skelett: seine Haut bestürzend durchscheinend, sein Kopf unnatürlich lang. In der Menge, die sich um den Bildstock sammelte, wiesen viele Gesichter Spuren früherer Mangelernährung auf.
    Das spiegelte sich auch in einigen Spitznamen. Die Mädchen hatten Leuten, die sie kennengelernt hatten und deren Namen sie nicht wußten, Tiernamen gegeben. Als sich die Einheimischen jetzt hier begrüßten, stellte ich fest, daß dies tatsächlich ihre Namen waren. Sie faßten sich an den Schultern, hielten sich an der Hand, küßten sich und sagten,
    »Na, Schlangenkopf, wie geht's?«
    »Du siehst ja, Fischgesicht, ich kann nicht klagen.«
    »Ach, Kaninchen, wo bist du gewesen?«
    » Dio buono , Truthahn. Und du?«
    Zum Bestiarium gehörten auch Hähne, Eidechsen, Haselmäuse, Läuse und dergleichen; alle Namen waren liebevoll gemeint.
    Cencis außergewöhnliches Aussehen spottete jeder Analogie aus dem Tierreich. Er war einzigartig. Seine Haut hing in so regelmäßigen und einheitlichen Falten herab, als habe man versucht, die berühmten Fortuny-Falten in Menschenhaut auszuführen. Nicht nur war sein Kopf lang, sein Gesicht war so schmal, daß die Züge darin kaum Platz fanden. Die durchsichtigen, herabhängenden Ohren reichten an den Gesichtsfalten vorbei bis fast auf den steifen Hemdkragen. Aus den weiten Serge-Manschetten seines Jacketts ragten zwei riesige rote Hände, die auf besorgniserregend dürftige Weise mit den Vogelknochen des Handgelenks verbunden waren. Die Finger waren von Arthritis zu Knoten und Stümpfen verzerrt. Die Adern standen hervor, ihr Pochen erbrachte den notwendigen Beweis, daß Cenci am Leben war. Kaum zu glauben, daß jemand leben konnte, der so zerbrechlich wirkte.
    Cenci schien sich seines todesverachtenden Aussehens nicht bewußt. Er lächelte beseligt alle an, die er erblickte. Die Beauties erzählten mir, er sei immer für ein Glas schwarzen Weins zu haben. Er machte noch seinen eigenen, zusammen mit seinem lebenslangen Freund Gianni und seiner Frau Nunzia. In ihrer Cantina lagen zahllose Fässer, und an Sommerabenden lauerten sie Passanten auf, damit sie hereinkämen und ihn probierten. Das Kind und ich waren bei unseren Spaziergängen einige Male bei ihm stehengeblieben, um ihn zu grüßen, aber er wirkte immer verlegen und schüchtern. Jetzt sagte er:
    »Kommt uns doch mal wieder besuchen. Euer Junge kommt oft mit Imolo zu uns … Werdet ihr kommen?«
    Wir alle versprachen, daß wir kommen würden.
    Er flüsterte Robbie zu: »Komm den Wein probieren.«
    Allie übersetzte aus dem schweren Dialekt.
    »Einfach, aber gut!« rief Cenci mit seiner hohen, zittrigen Stimme. Ihn schauerte, und er seufzte: » Uddìo! Er ist so gut!«
    Dem folgte ein kurzer Tumult, als sein Freund Gianni sein Mikrophon hervorkramte, es an seinen künstlichen Kehlkopf hielt, es einstöpselte und dann mit Roboterstimme »Eh, sì , eh!« hervorkrächzte, was seine Lieblingsbemerkung war. Als das gesagt war, kehrte er den Vorgang um, schraubte das Mikrophon auseinander, bedeckte die Luftröhrenöffnung mit einem Stück Gaze, das ihm griffbereit als schmuddeliger Vorhang um den Hals hing, und steckte das Mikrophon in die Tasche, wo es blieb, bis ihn der Drang erneut überfiel, seiner Zustimmung verbal Ausdruck zu verschaffen.
    Cencis Bewegungen waren langsam und ungelenk, als er zur Madonnina hinaufging. Auf den sonst farblosen Furchen seines Gesichtes lag ein sanfter rosa Schimmer. Es fand ein Fest statt, eine gutgelaunte Zusammenkunft. Er war aufgeregt. Seine hellen, wässrigen Augen schossen durch die Menge und blitzten bei jedem bekannten Gesicht auf. Er war unter Freunden. Sie hatten siebzig Jahre lang miteinander geschuftet. Als Kinder hatten sie in den Hügeln und Bächen Nahrung gesucht und Spaß gehabt. Seine und ihre Erinnerungen waren die gleichen.
    Er ging einen Schritt zurück auf uns zu.
    »Ich war vierzig Jahre lang Gärtner in der anderen

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