Ein Haus in Italien
nicht nur bis zum Winter, sondern den ganzen Winter hindurch. Wenn sie schließlich fielen, dann nur, weil sie spät im folgenden Frühjahr von den neuen fortgestoßen wurden. Daher war die Landschaft nie ganz öde; selbst mitten im Winter blieben die Rot- und Orangetöne der
Eichen, sie lagen über den Bergen wie ein tröstlicher, leuchtender Schleier.
Der August in Umbrien war ein träger Monat für alles, außer Tabak und Mais. Sie wuchsen so schnell, daß die staubigen weißen Straßen, die das ganze Jahr die weiten Felder geteilt hatten, fast über Nacht zu Alleen durch hochragende Stengel hindurch wurden. Der Tabak wurde üppig gewässert und außerdem alle zwei Wochen mit einer stinkenden Chemikalie besprüht, von der man munkelte, sie sei schon vor Jahren sowohl von der EG wie von der Regierung verboten worden. An den relativ kühlen Abenden, zwischen Mückenklatschen und Weinnippen, erfuhr ich, daß die Benutzung dieses Produktes strittig war. Angeblich war es krebserzeugend, und viele Bauern, die früher für die wenigen größeren Landbesitzer der Gegend gearbeitet hatten, beklagten sich bitter über seine toxische Wirkung:
»Selbst wenn man vorher ein Taschentuch vors Gesicht bindet, wird einem beim Sprühen schlecht. Es ist kein Zufall, daß es hier so viele Fälle von il male brutto («das häßliche Übel«) gibt: Kehlkopf- und Magenkrebs.«
Die Augusttage schlichen träge dahin. Allie war froh, daß alle Dorfkinder Schulferien hatten. Das gab ihm die Möglichkeit, von morgens bis abends mit ihnen Fußball zu spielen. Er schien, ebenso wie seine neuen Freunde, von der Hitze merkwürdig unbeeindruckt, wenn sie beim Spiel ein Stück Ödland aufscharrten und wechselseitig ihre Fußbälle zum Platzen brachten. Er hatte sein Vorhaben längst revidiert, die Kinder des Ortes erst zum Schulanfang kennenlernen zu wollen, und er hatte viele traurige Stunden lang Menchinas Hibiskusbaum zerdrückt, während er sich am Geländer der Bar festhielt und das Kommen und Gehen der Dorfjungen beobachtete.
Imolo hatte ihm die Bekanntschaft aller über Vierzigjährigen besorgt, und das Kind Iseult hatte für ihn ersatzweise viele Freunde und Kumpel in der Altersstufe zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig gefunden. Aber er sehnte sich danach, Jungen in seinem Alter kennenzulernen und mit ihnen zu spielen. Seinen besten Freund, den Mittelgroßen Daniele, hatten wir an Menchinas Fußballtisch kennengelernt. Der Mittelgroße Daniele wohnte nebenan und war süchtig nach Mortadella-Brötchen, die er in halbstündigen Abständen zu jeder Tages- und Nachtzeit aß. Ständig kauend, hatte er angefangen, uns beim Tischfußball zuzusehen. Nach vierzehn Tagen hatte er sich sogar bereit erklärt, sein Brot hinzulegen und eine Runde lang ins Tor zu gehen, und da zeigte sich, daß er erbarmungslos geschickt darin war, die Minibälle von den Füßen seiner zwei Verteidigerreihen prallen zu lassen.
Er erzählte uns stolz, sein Vater sei der beste Tischfußballspieler von San Orsola. Er begann, abends auf uns zu warten, um mit uns zu spielen. Er organisierte ein Match mit einem anderen Team, und eines Tages bat er Allie, mit ihm zu spielen, und nannte ihn Allie. Von diesem Augenblick an waren Allie und der Mittelgroße Daniele unzertrennlich. Wagte jemand zu erwähnen, daß Daniele eher mollig war, um nicht zu sagen dick, schwang Allie sich mit solcher Leidenschaft zu seiner Verteidigung auf, daß der Name Mittelgroßer Daniele aufkam und hängenblieb. Allie hegte immer stärker den Wunsch, den Mittelgroßen Daniele zu uns einzuladen. Imolo riet ihm, damit bis zur Ankunft der Möbel zu warten. Und so begannen die Freuden des Campings selbst für Allie schal zu werden.
In der Schlacht um unsere beschlagnahmten Möbel war unterdessen ein Stillstand eingetreten. Unsere drei Zwölfme
ter-Container waren immer noch in einem Bürokratengestrüpp in Livorno gefangen. In Genua hatten einige Monate zuvor die Hafenarbeiter gestreikt, was alle Sendungen nach Italien, unsere eingeschlossen, verzögert hatte. In dem dadurch verursachten Chaos waren die Container so lange festgehalten worden, daß die Dokumente für ihre Freigabe abgelaufen waren. In Italien haben alle Dokumente eine festgelegte Lebensdauer, und im Gegensatz zum durchschnittlichen Italiener sterben sie jung.
Da es einen Streik gegeben hatte – ein unvorhersehbares Ereignis –, lehnten die Hafenbehörden in Livorno jegliche Verantwortung für die entstandene Situation ab. Ich
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