Ein Haus in Italien
keine Anstalten zu gehen. Anspielungen, Vorschläge und Ultimaten perlten an ihm ab.
Unsere Gäste hatten mehrfach angeregt, die spektakulären Orte in den umliegenden Bergen zu besichtigen, um dem engen Netz zu entfliehen, das wir um San Orsola gesponnen hatten. Am ersten Abend eines jeden Besuchs wurden die berühmten Bergorte aufgezählt und als Ausflugsorte vorgeschlagen: Gubbio, Assisi, Montefalco, Spoleto, Santa Maria Tiburina und die alte etruskische Hauptstadt Perugia. Alle waren relativ nah.
»Diese Orte liegen doch direkt vor eurer Tür. Sie sind weltbekannt – ihr müßt dahin. Wie kann es sein, daß ihr so lange gewartet habt?« rügten sie uns, aber ich fand es zu schwierig,
das plötzliche Erlöschen unseres Fernwehs zu erklären, die Erleichterung, einen Ort gefunden zu haben, wo wir Wurzeln schlagen konnten, und unser ständiges Staunen über alles, was wir im Mikrokosmos von San Orsola und seiner unmittelbaren Umgebung zu sehen und lernen bekamen.
Von unserem Haus waren zu Fuß drei sehr alte Türme erreichbar: einer aus dem elften Jahrhundert, der auf die Tempelritter zurückging, stand am Ende des Weinbergs hinter der Villa und war Gegenstand vieler Tagträume, wenn ich von der Ruine meiner Loggia zu ihm hinüberblickte. Die anderen beiden waren aus dem zwölften Jahrhundert, der Geburtsort von Pietro, dem letzten Castellano, sowie ein weiterer auf einer Anhöhe hinter der Bar. Zusammen bildeten sie ein Verteidigungsdreieck. Etrusker, Römer, Barbaren und Toskaner, sie alle waren durch dieses Tal gezogen.
Die letzte Besatzung fand, nach einer Pause von nahezu siebenhundert Jahren, im Zweiten Weltkrieg statt. Über Jahrhunderte war San Orsola vergessen gewesen, interessant nur wegen des Holzes aus den umliegenden Wäldern und der unspektakulären Ergebnisse seiner arbeitsintensiven Landwirtschaft. Mitte des dreizehnten Jahrhunderts wurden die jetzigen Weiler von Signor Marchese Guido di Monte Santa Maria erobert und den zahlreichen Besitztümern der alten Stadt Città di Castello zugeschlagen. Die Kämpfe, die dann folgten, galten nur noch den Naturelementen oder Krankheiten, ob sie nun die Bewohner oder die bescheidenen Feldfrüchte heimsuchten.
Unsere Besucher fielen, einer nach dem anderen, dem trägen Zauber unseres unbesungenen Fleckchens Umbrien anheim. Ausflüge in umliegende Städte wurden immer wieder verschoben und durch Gänge ins Dorf, zum See und in die
Hügel hinauf zum Gipfel des Zeno Poggio ersetzt, wo Sonnenuntergänge die verbrannten Wiesenstücke in unbeschreiblich schönes Licht tauchten.
Als ungeschickte Amateurhistorikerin und tapsige Ethnologin getarnt, ging ich auf dem Weg über die Erinnerungen unserer Nachbarn den Sitten des Dorfes und seiner Vergangenheit nach. Cenci, Beppe del Gallo, Signora Maria, Gelsomino der Schmied und Menchina nahmen es auf sich, mich zu führen.
Geschichte ist hier etwas, das unter jedem Stein und Felsbrocken steckt. Bauern graben sie beim Pflügen ihrer Felder aus, und uralte Bauersfrauen, die an ihrem Brotofen hocken, kennen sie. Und Tag für Tag erinnern die Steine daran. Kirchen, palazzi , Villen und Bauernhäuser bezeugten die außerordentliche Geschichte, Kultur und Kunst der italienischen Vergangenheit. Umbrien ist keine Ausnahme, auch San Orsola nicht. Es gibt so viel zu wissen und zu erinnern, daß die örtlichen contadini eine Variante dieser Wahrheit neu erfunden haben, wie eine Landschaft aus Zahlen. Einige wichtige Punkte ragen heraus und werden einem anderen Ereignis zugerechnet, das wiederum einem anderen zugeschlagen wird, mit wenig Rücksicht auf trennende Zwischenräume.
Angeblich verliebte sich der Renaissance-Maler Luca Signorelli in ein Mädchen aus dem Bergdorf Muccignano, als er unterwegs zu einer Arbeit in Santa Maria Tiburina war. Es ist bekannt, daß er in der Gegend Rast machte. Er ist Teil der Geschichte. Dann wurde offenbar irgendwann im achtzehnten Jahrhundert ein Nachfahre der Nicasi, der hiesigen Gutsherren, auf dem Weg nach Cortona überfallen. Er kehrte zurück und starb kurz darauf. Sein Sohn wurde von einem Onkel aufgenommen. Dieses Kind verlor später nahezu sein
ganzes Erbe auf eine Weise, über die nur Ungewisses zu erfahren war. Sicher ist, daß vom Steinbogen, der zwischen der oberen und der unteren Dorfstraße stand und ehemals zwei Nicasi-Villen verband, das Blattgold entfernt wurde und daß jetzt nichts mehr übrig ist als ein Mauerrest auf einer Seite. In der Welt jenseits des ehemals goldenen
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