Ein Haus in Italien
Tores ist nach einstimmiger Meinung von Cenci und Menchina in den Jahren seither nicht viel passiert, sieht man ab von La Nona , der mysteriösen Schlafkrankheit, die Italien in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts heimsuchte, und dem Erdbeben von 1917.
Bei genauerem Nachfragen erfuhr ich, daß auf den Feldern früher Mais und andere Feldfrüchte wuchsen, von Flachs bis zu Hülsenfrüchten. Es herrschte Armut, aber kaum Hunger. Die Ernte brachte wenig Gewinn für die contadini , die sie einbrachten, da das mezzadria -Halbpachtsystem allgemein üblich war. Der Gutsbesitzer stellte Land und Saatgut, der Bauer arbeitete, dann teilten sie den Ertrag. Geteilt wurde nicht zu gleichen Teilen, wie das Wort vermuten ließe, sondern 60:40 zugunsten des Gutsbesitzers, und alle Kosten wurden ihm erstattet. Auf schlechtem Land hatte das viele arme Familien zur Folge. Alle waren sich einig, daß die Kirche ihre Privilegien mißbraucht und vielen Familien das wenige geraubt hatte, was sie besaßen.
Einig waren sich auch alle darüber, daß von 1916 bis zum Ende des Großen Krieges ein Ochsenkarrenkonvoi die Ehefrauen und Witwen der Frontsoldaten nach Città di Castello brachte, damit sie dort ihre Rente holen konnten. Dieser Frauenzug war in den Mythen der Gegend sehr lebendig geblieben. Seine Heldentaten nahmen im Verlauf vieler weinseliger Abende drastisch zu. In Kleinstädten und befestigten Städten
sind die Berichte genauer, die Menschen dort kennen die wichtigsten Ereignisse ihrer Geschichte auf geordnete Weise. Auf dem Land ist alles verschwommen: ein verschleierter Nachthimmel, nur von hellen Sternen erleuchtet. Die contadini suchen ihren Weg durch die Vergangenheit, indem sie sich von einem Licht zum nächsten tasten. Wie an allen kleinen Orten schrumpfte oder wuchs Geschichte mit dem Temperament des Erzählenden. In den Fakten steckt immer ein Klatschquotient. Eine Geschichte wird erzählt und wiederholt, ausgefeilt, erneut erzählt, fast unmerklich verändert und weitergereicht. Manches wird vergessen und nach Belieben ergänzt. Namen fließen zusammen und verblassen, Daten sind ungenau, und sie sind, wie durch ein Halteseil, immer mit etwas anderem verknüpft. Es gibt Vors und Nachs. Vor dem Erdbeben … nach dem Krieg … Nur sehr wenige Geschichten stimmen überein. Das individuelle Gedächtnis arbeitet mit seinen eigenen Auswahlverfahren.
Als Schriftstellerin war ich überwältigt von der Fülle des Materials, das ich jeden Tag bekam, der Vorrat wuchs und stapelte sich ebenso zuverlässig wie die Schätze an Lebensmitteln und Wein, die in jeder Cantina gelagert waren. Ich hatte sieben Jahre auf einer Zuckerrohrplantage in den venezolanischen Anden verbracht. Die Menschen der Gemeinde, in die ich hineingeriet, lebten weit voneinander entfernt auf einem dünn besiedelten Gebiet, von der übrigen Welt in einem Zeitloch isoliert, und diese Jahre waren der Mittelpunkt meines Schreibens und ein außerordentlich günstiges Sprungbrett für meine Phantasie gewesen. Der Ort und die zweiundfünfzig Landarbeiterfamilien, die mit mir dort lebten, haben mich, im Guten wie im Schlechten, zu der Person geformt und geprägt, die ich heute bin. Durch meinen langen, erzwungenen
Kontakt mit den Bauern und ihren endlos ausgedehnten Familien wurde ich in ihre klaustrophobische Welt hineingezogen, in ihre Geheimnisse eingeweiht, durch ihre eigenständige, archaische Variante des Spanischen bereichert. Das Kind Iseult und ich waren von Elementen subtropischer Phantasie gezeichnet, die jeden Aspekt unseres dortigen Lebens berührten. Ich verließ Venezuela und die Hacienda auf der Flucht vor einer unlebbaren, gewalttätigen Ehe. Ich habe mich niemals nach der Gewalt oder dem Wahnsinn jener Andenausläufer zurückgesehnt, aber ich sehnte mich nach dem Gefühl von Gemeinschaft, nach der Nähe, dem Geheimnis, den Mythen. Ich sehnte mich auch nach der Harmonie des Landlebens, danach, wieder mit dem Land und den Elementen verbunden zu sein.
In Venezuela erfüllte sich mein Traum von einem großen Haus zum ersten Mal. Das Herrenhaus im spanischen Kolonialstil, in dem ich dort lebte, hieß einfach nur la Casa Grande (das Große Haus). Es war, wie die Villa Orsola, ebenfalls leer gewesen. In der Verwirrung eines wahr gewordenen Traums erkundete ich Hallen und Korridore, Terrassen und Türme. Während meiner ersten Jahre besuchten mich immer mehr Kinder aus den entlegeneren Teilen der Hacienda und blieben. Auch sie litten unter
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