Ein Haus in Italien
verspürt. Nach den ersten vierzehn Tagen, als mir die Geräusche der Hügel und der leeren Ruine vertraut geworden waren, habe ich dort nie mehr Angst gehabt.
Clara sagte mir, die Größe des palazzo mache ihr solche Angst, daß sie unter keinen Umständen bei Nacht herkäme, aber hin und wieder werde sie bei Tageslicht kommen, um die Fortschritte unseres nocino zu überwachen.
Am folgenden Tag wußten das Dorf, Regina, Menchina und all unsere anderen Bekannten ebensoviel über unseren Walnußlikör wie wir selbst. Die Gerüchteküche funktionierte schnell und effizient, Informationen liefen den Berg hinauf
und hinunter, gepaart mit Tips zu diesem und jenem Reifungstag unseres nocino.
Auf den Feldern schwollen die Paprikaschoten wie gelbe Kröten, die am Boden hocken. Der hohe Mais verwandelte unsere Straße zunehmend in eine schattige Allee, und unter dem zarten Seidenbart bildeten sich schon die Taschen der Maiskolben. Ein paar alte Frauen sammelten diese seidigen Strähnen und machten daraus ein kühlendes, nicht sehr wohlschmeckendes Getränk, das angeblich gut für die Nieren war.
»Fast so gut wie Schachtelhalmtee, besser als Gerstenschleim, aber nicht so gut wie Wassermelone«, versicherte mir Menchina.
Im Dorf wimmelte es von Kräuterrezepten, wenn auch die meisten Bewohner die Naturmedizin zugunsten von Untersuchungen durch Schulmedizin und Bluttests im Krankenhaus von Città di Castello aufgegeben hatten. Doch über die Heilkraft einiger Aufgüsse wie Kamille und Fenchel herrschte ebenso Einigkeit wie über die Wirksamkeit von Malve gegen Zahnfleischentzündung, vor allem aber darüber, daß Essen der Quell guter Gesundheit, eine achtlose Ernährung der Quell alles Bösen sei.
Das Jahr schien sich in den ersten Monaten gedehnt zu haben, um sich von der Mitte des Sommers an zusammenzuziehen, als konzentrierte sich seine Essenz zu einer dicken Soße: wie die Tomatensoße, die jeder Haushalt in San Orsola kochte und in vielen hundert Flaschen einlagerte. Die Tomaten kamen als Schwemme über die Gemüsegärten. Ende August oder Anfang September holte man einen großen gußeisernen Topf hervor, ein Erbstück aus härteren Zeiten, und setzte ihn auf ein offenes, von flachen Steinen begrenztes
Feuer. Dann wurden Tomaten, Knoblauch und Basilikumblätter aufgekocht und eingemacht. Dieser Vorrat an Tomaten, Produkt der Gärten hinter, neben oder vor jedem Haus, stand dann dicht gedrängt auf den Regalen einer jeden Cantina.
Ein Winter ohne ihn war völlig unvorstellbar. Bei seinem Anblick hätten die Wölfe gezittert, die noch vor kurzem die Wälder rund um das Dorf durchstreift und, bildlich gesprochen, jede Tür bedroht hatten. Maria d'Imolo erzählte mir, jeder Haushalt koche mindestens einhundert, meist eher zwei- bis dreihundert Gläser ein. Sie selbst hatte in diesem Jahr zweihundertdreißig eingemacht. Diese polpa , wie sie hieß, war der Stolz jedes Kellers. Sie kam nach dem Wein und war ebenso wichtig wie Schinken und Salami. Ausnahmsweise war polpa ein Gemeinschaftsunternehmen: von Männern gezogen, aber von Frauen eingemacht. So groß war die Macht der Tomate, daß sie sogar die Geschlechtergrenzen niederreißen konnte. Sie galt als fast so allmächtig wie ein viktorianisches Einreibemittel. Wären die polpa -Gläser etikettiert worden, hätte sicherlich draufgestanden, der Inhalt sei nicht nur köstlich und nahrhaft, sondern auch ein bewährtes Heilmittel gegen Schlangenbiß, Depression, Husten, Erkältung, Fieber sowie jedes andere Übel, das den Menschen heimsuchen könne. Sie war für Umbrien, was Kalbsfußsülze für England war. Sobald sich einer von uns unwohl fühlte, erhielten wir unweigerlich ein Gläschen polpa. Sie war mit kleinen Nudeln zu essen, die in einer Brühe aus einem frisch geschlachteten Huhn und gli odori (Sellerie, Petersilie, Zwiebel und Knoblauch) gekocht wurden.
Das Kind Iseult ernährte sich fast ausschließlich von Waschschüsseln mit kurzen Nudeln mit polpa di pomodoro. Der
Anblick so vieler Eisentöpfe mit diesem Elixier belebte sie wieder. Ihre Listen wurden länger, und die Tage ihrer Putzwut kehrten zurück. Nach der Ankunft der Möbel hinterließ ihr Hausputz, wenn sie ihn nicht beendete, ein absolutes Chaos. Das Telefon war ihr neues Spielzeug, mit dem sie viele Stunden verbrachte. Es hatte sie sogar von ihren Gesichtsmasken abgelenkt, obwohl sie beides gelegentlich kombinierte. Nachdem sie sechs oder sieben Stunden lang im Spülstein mit Zahnbürste und Soda
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