Ein Haus in Italien
Schale hart geworden ist)
Es gehörte zu Claras zeitaufwendigeren Rezepten: Es erforderte vierzig Tage.
Wir kauften das Erforderliche, und am folgenden Abend kehrten Silvio und die anderen zurück. Die Zitronen waren nicht zu gebrauchen, offenbar, weil sie nicht von einem hiesigen Baum stammten. An meinem Baum hing nur eine einzige Zitrone, und die war winzig und schien ihr verstocktes Grün niemals verlieren zu wollen. Die beiden anderen Winz-Zitronen waren von verirrten Cricketbällen vom Baum geschlagen worden. Nachdem sie ihre anfängliche Schüchternheit überwunden hatte, war es die jüngere, kontaktfreudigere Tochter Clara, die sich an die Zubereitung machte. Der schwierigste Teil des Unterfangens war, die steinharten Nüsse kleinzuhacken. In den Walnußschalen lauerte gelber Saft, der Hände, Nägel und Kleider verfärbte.
Als die Zutaten vorbereitet waren, wurden sie in eine sorgfältig gereinigte und ausgetropfte Korbflasche gefüllt, die dann fest zugepfropft und morgens und abends jeweils zehn Minuten geschwenkt werden mußte. Dies auch nur einen einzigen Tag zu versäumen, mahnte Clara, würde irreparablen Schaden verursachen. Silvio gab uns einen dicken Weidenstab, mit dem wir die Mischung rühren sollten. Er ähnelte verdächtig einem der abhanden gekommenen ursprünglichen Cricketstäbe.
Am 15. September könne er abgefüllt werden, ließ Silvio, der Hohepriester der Zubereitung, uns über seinen schüchternen, rotwangigen Übersetzer wissen. Dann äußerte er sich abfällig über die Hochnäsigkeit der Castellani, lobte die unerreicht gutherzigen Orsolani, wiederholte nochmals alles, was wir mit angesehen und selber zubereitet hatten, geschickt vermischt mit kleinen Neuigkeiten und Informationen, um
unser Interesse wachzuhalten. Alle sprachen breiten Dialekt.
»En dù'èno le ruschiè? Piiele ne una, questa è piena de gniacchera.« (Wo sind die Stöcke? Gib mir einen anderen, der hier ist voll Schlamm.)
»E'la me lè.« (Er ist dort drüben.)
Robbie, dessen Italienisch sich mit knapper Not auf die Konversationsebene zu bewegte, verstand kein Wort. Sie erzählten uns von einem Partisanen aus der Gegend, dessen Liebe zum nocino legendär war. Unter den Augen des Feindes war er in seine Cantina zurückgekehrt, um dort seinen eigenen nocino zu plündern und mit in die Berge zu nehmen.
Sie erörterten alle bekannten Todesfälle und Wunder, die dem nocino zugeschrieben wurden. Sie erörterten den Ausgang des Fußballspiels, das sie im Fernsehen gesehen hatten. Im Verlauf dieser gestotterten Unterhaltung wurden unsere Hände gelb bis zu den Gelenken. Nur Clara und ihre Schwester hatten keine vergilbten Hände, sie waren mit Gummihandschuhen bewaffnet angerückt.
»Stimmt es«, fragte der Dolmetscher und blickte auf die vier hohen Fenster der Küche, »daß es hier dreihundertfünfundsechzig Fenster und Türen gibt?«
»Nein, das ist erfunden.«
»Man kann es sich kaum vorstellen, oder?« sagte er ehrfürchtig, wobei er sich offenbar die dreihundertfünfundsechzig Fenster und Türen so gut wie möglich vorstellte und vor seinem geistigen Auge bereits so deutlich sah, daß er im Dorf von ihrer Existenz berichten würde, sobald er zurück war.
»Und hast du keine Angst, hier allein zu sein?« fragte mich Clara.
Ich schüttelte den Kopf und war ebenso überrascht wie
sie darüber, daß ich wirklich keine Angst hatte, hier allein zu sein. Ich habe in jedem Haus, in dem ich je gelebt habe, bei Dunkelheit Angst gehabt. Einige Häuser waren schlimmer als andere. Das Schloß, in dem ich im Moor von Norfolk wohnte, war wie die Kulisse eines klassischen Horrorfilms. Während meines ganzen ersten Jahres dort hatte der erste Stock keinen Strom. Das Haus war zwar mehr oder weniger renoviert, aber es herrschte ein gravierender Mangel an sanitären Anlagen. Trotz seiner Größe gab es in dem einen Flügel ein verwahrlostes Badezimmer, das vom Bleidach mit Regenwasser versorgt wurde, in dem anderen eine winzige Erkertoilette in einem Eckturm. Eingesperrt in diesen engen achteckigen Erker, habe ich viele Nächte bei flackerndem Kerzenlicht verbracht, habe dem Ticken der Klopfkäfer in der Holzdecke gelauscht und den Pfauenkrallen, die wie Ketten über das Dach scharrten, und ich war so starr vor Angst, daß ich den Ort erst verlassen konnte, wenn die Haushälterin und der Morgen kamen. In der Villa könnte ich mich in fast kein Zimmer einschließen, da es an Türen fehlte, aber ich hatte auch nie den Drang
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