Ein Herzschlag bis zum Tod
für mich so einiges, was mit diesem Land nicht stimmt: fettiges, salziges, billiges Essen, das man in die Hand gedrückt bekommt, während man in einem Fahrzeug sitzt, das fossile Brennstoffe verschwendet und umweltverschmutzende Abgase ausstößt. Andererseits würde es mich nicht umbringen, wenn ich einmal dorthin fuhr. Ich zögerte, bevor ich Paul ein Happy Meal bestellte. Vielleicht wollte er nicht an seine Gefangenschaft erinnert werden. Zum Glück freute er sich über den bunten Karton und das billige Spielzeug, keine Spur eines Traumas.
Verdammt.
Verdammt verdammt verdammt. Ich musste mal mein Gehirn abschalten.
Ins Theater zu gehen, erwies sich als ausgezeichnete Idee. Die örtliche Theatergruppe führte ein Stück von Larry Shue namens
The Foreigner
auf. Darin geht es um einen schüchternen Engländer, der drei Tage lang in einer Hütte in Georgia festsitzt und sich als Ausländer ausgibt, der kein Englisch spricht. Ich hätte nicht damit gerechnet, so viel zu lachen. Keine Ahnung, |59| wie viel Paul verstand, aber die übertriebenen Dialekte und Grimassen erforderten keine Übersetzung. Vielleicht war es auch ein Ventil für aufgestaute Emotionen. Auf dem Rückweg schlief er im Auto ein, und ich führte ihn nach oben ins Badezimmer, zog ihm Schuhe und Jeans aus und packte ihn ins Bett. Er schlief sofort weiter.
Ich war auch müde und machte mir noch einen Kaffee, wobei ich ein Küchentuch als Filter benutzte. Dann setzte ich mich hin und begann zu tippen:
Was soll man über ein Stück schreiben, bei dem man von der ersten Minute an lauthals lachen muss?
Ich hämmerte tausend Wörter herunter, druckte den Artikel aus, korrigierte ihn und mailte ihn an die Redaktion von
Enterprise.
Dann lag ich noch lange wach und dachte nach.
***
Als ich früh am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich schon alles geplant. Bevor Paul sich rührte, schlüpfte ich aus dem Bett und schaltete den Computer ein, um mir ein paar Visitenkarten zu drucken. Dann packte ich und rief rasch bei Baker an, bevor ich Paul weckte. Noch ein kurzer Spaziergang mit Tiger, Cheerios am Plastiktisch in der Küche, ein Zettel mit der Bitte an Zach, sich um Tiger zu kümmern, und dann fuhren wir nach Saranac Lake.
|60| 10
»Das ist doch verrückt, Troy«, erklärte Baker unverblümt. »Du willst nach Ottawa fahren, um Pauls Vater zu suchen. Und was dann?«
Ich schwieg.
Sie drehte sich vom Spülbecken zu mir. »Na schön, du hast Paul behalten, bis er mit dir gesprochen hat. Vermutlich hast du sehr viel mehr herausgefunden, als die Polizei von ihm erfahren hätte. Aber jetzt weißt du, wer er ist. Du weißt, dass er entführt wurde. Du weißt, dass man seine Mutter ermordet hat. Du weißt, dass er einen Vater hat. Troy, das musst du der Polizei melden.«
Ich hörte das Ticken der Wanduhr. Ansonsten war es ganz still im Haus. Die beiden ältesten Jungen waren in der Schule, und der Jüngste spielte mit Paul bei der Nachbarin Holly.
Ich versuchte, mir eine Entgegnung zurechtzulegen und etwas zu erklären, das mir selbst nicht ganz klar war. Schließlich redete ich drauflos, und, Gott steh mir bei, meine Stimme zitterte und mir lief eine Träne über die Wange. Baker schaute mich entsetzt an, als ich die Hände vors Gesicht schlug und um ein Haar losgeschluchzt hätte. Sie hatte mich noch nie weinen sehen. Später gestand sie mir, sie habe gar nicht gewusst, dass ich überhaupt weinen konnte.
Endlich brachte ich es halbwegs verständlich heraus. Ich hatte die halbe Nacht darüber nachgedacht. Vielleicht hatte Pauls Vater nichts mit der Entführung und dem Tod seiner Frau zu tun. Vielleicht gab es einen harmlosen Grund, aus dem er |61| nach Ottawa umgezogen war und die Medien nicht über den Fall berichtet hatten. Doch es war ebenso gut möglich, dass er dahintersteckte.
Vielleicht hatte er Frau und Kind loswerden und die Kosten für die Scheidung sparen wollen. Kein Aufsehen, kein Streit, kein Unterhalt, keine Alimente. Falls er schuldig war und man es ihm nicht nachweisen konnte, würde man ihm Paul zurückgeben. Genau wie die Kinder des Anwalts aus Nashville würde auch Paul bei dem Mann aufwachsen, der für den Tod seiner Mutter verantwortlich war.
Baker hörte mir zu. Sie hatte eine ganze Kanne Earl Grey für mich aufgegossen und trank sogar selbst davon. Emotionale Krisen verlangten anscheinend nach teurem Tee und nicht nach den billigen Beuteln, die sie gewöhnlich für meinen Eistee verwendete.
»Das kann ich nicht zulassen«, sagte
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