Ein Herzschlag bis zum Tod
Hinweis im Wirtschaftsteil, dass die Agentur nach Ottawa umgezogen sei.
Also wechselte ich zum
Ottawa Citizen
, wo ich zwei kleine Artikel fand, zum Umzug und einem soeben gewonnenen Kunden. Vor einigen Jahren noch hätte man annehmen können, dass die Firma aus Angst vor einer Abspaltung Québecs von Kanada umgezogen sei. Das letzte Referendum war haarscharf ausgegangen – 49,4 zu 50,6 Prozent, doch seitdem hatte die Separatistenbewegung an Unterstützung verloren.
Über eine Entführung, eine vermisste Ehefrau und ein vermisstes Kind fand ich nichts. Wie war es möglich gewesen, das vor den Medien geheim zu halten? Gewiss, die Polizei würde Stillschweigen bewahren, und ein Umzug von zweihundert Kilometern war sicher dazu angetan, unerfreuliche Fragen nach Frau und Kind zu vermeiden. Ich sah zu Paul hinüber. Er war immer noch mit Malen beschäftigt.
Meine Gedanken bewegten sich in eine Richtung, die mir nicht behagte. Natürlich war es denkbar, dass man nach einer persönlichen Tragödie einen Schnitt machte. Vermutlich hatte Pauls Vater die Hoffnung aufgegeben, Frau und Kind wiederzusehen. Vermutlich war das Haus, in dem sie gemeinsam gelebt hatten, unerträglich für ihn geworden. Dennoch fragte eine kleine, beharrliche Stimme in meinen Kopf:
Wie konntest du so schnell dort ausziehen? Warum bist du nicht in eurem Haus geblieben, solange noch eine winzige Chance bestand, dass die beiden eines Tages zurückkehren würden?
Außer natürlich, er wusste, dass sie nicht zurückkehren würden.
Ende der Neunzigerjahre hatte in Nashville ein Rechtsanwalt |57| namens Perry March seine Frau getötet, nachdem sie mit Scheidung gedroht hatte und die beiden kleinen Kinder mitnehmen wollte. Er war zehn Jahre lang damit durchgekommen, bis sein Vater schließlich gestand, ihm bei der Entsorgung der Leiche geholfen zu haben. Und bei einem berüchtigten Fall aus Washington hatte ein früherer Toningenieur des Motown-Labels seine Exfrau, seinen behinderten Sohn und dessen Pflegerin getötet, um an das gewaltige Treuhandvermögen des Kindes zu gelangen. Anscheinend hatte der Mörder einen Ratgeber mit dem Titel
Hit Man: ein technisches Handbuch für unabhängige Dienstleister
gelesen. Die Familie verklagte den Verlag und gewann den Prozess.
Paul hatte eine neue Seite im Malbuch aufgeschlagen und damit begonnen, die Figuren leuchtend bunt auszumalen. Er war ein ordentlicher Maler und blieb sorgsam innerhalb der Linien.
Ich konnte in Ottawa und Umgebung keine Privatadresse für Philippe Dumond finden, wohl aber die Geschäftsadresse mitsamt Telefon- und Faxnummer. Einen verrückten Augenblick lang spielte ich mit dem Gedanken, ihm ein Fax zu schicken:
Sehr geehrter Mr. Dumond! Vermissen Sie jemanden?
Ich schaltete den Computer aus und setzte mich aufs Sofa. Dann bewunderte ich Pauls Werk und las ihm
Ich mach mir meine eigene Welt
vor. Die Geschichte gefiel ihm so gut, dass wir sie noch zweimal lasen. Zum Glück ist es ein kurzes Buch.
Fast hätte ich vergessen, dass ich abends ins Theater gehen und eine Kritik schreiben sollte. Normalerweise nahm ich Baker oder Kate mit, doch heute Abend war Paul an der Reihe.
Ich ließ Badewasser ein und suchte ihm Kleidung von Bakers Sohn heraus. Seine Sachen waren nun trocken, aber zu klein, außerdem wollte ich nicht, dass er sie noch einmal trug. Dann fiel mir auf, dass ihm die Haare in die Augen fielen.
Zeit für einen Haarschnitt, dachte ich. Ich legte ihm ein Handtuch um die Schultern, setzte ihn auf den Schreibtisch |58| und erklärte in einer Mischung aus Englisch, Französisch und Zeichensprache, dass ich ihm mit meiner
ciseaux
die Haare schneiden wollte. Das mache ich schon seit der Schulzeit. Ich bin keine Künstlerin, bekomme aber einen einfachen Schnitt ganz anständig hin. Er widersprach nicht, worauf ich Kamm und Schere holte.
Sein Haar war voll und glatt, aber ungleichmäßig lang. Ich kämmte, schnippelte und stufte, und als ich fertig war, sah sein Gesicht nicht mehr ganz so schmal und verloren aus. »Sehr schön.
C’est beau.
« Er lächelte schüchtern, sprang vom Tisch und hielt mir das Kehrblech hin, als ich die Haare zusammenfegte. Jemand hatte ihm das beigebracht. Es passte nicht zu einem Kind, das man weggeworfen hatte und das Kleider trug, die zu klein und ganz grau vom vielen Tragen waren.
Auf dem Weg nach Saranac Lake fuhren wir bei McDonald’s Drive-in vorbei, was ich eigentlich aus mehreren Gründen missbillige. Fastfood und Drive-ins symbolisieren
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