Ein Herzschlag bis zum Tod
gewesen, und dann hatte ihn jemand hochgehoben, etwas eng um ihn gewickelt, und dann war er gefallen, gefallen, gefallen und konnte die Arme nicht mehr bewegen.
»
Et puis vous êtes revenue pour moi
«, sagte er und strahlte. Meine Augen füllten sich mit Tränen, und meine Brust war so eng, dass es weh tat. Ja, ich war zu ihm gekommen und hatte ihn aus dem Wasser gezogen und gerettet. Ich drückte ihn an mich, vielleicht ein bisschen zu fest.
Ob er seinen Namen schreiben könne? Natürlich. Er nickte stolz. Natürlich könne er das. Er sei doch schon sechs. Ich gab ihm einen Schreibblock und einen Stift, worauf er umständlich schrieb:
Paul Dumond.
Ich fragte nach seinen Eltern und hielt die Luft an.
Er überlegte kurz und schrieb dann
Philipe
und nach mehreren Versuchen
Madline.
Philippe und Madeline Dumond. Montreal.
Jetzt hatte ich Namen und einen Ort.
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Ich hatte angenommen, dass Paul seine Geschichte stückweise preisgeben und ich die einzelnen Puzzleteile nach und nach würde zusammensetzen müssen, bevor ich in aller Ruhe entschied, was zu tun sei. Und ich hatte wohl irgendwie gehofft, dass er einfach ein Kind war, das niemand wollte.
Mit einer solchen Geschichte hatte ich in meinen wildesten Träumen nicht gerechnet.
Mich juckte es in den Fingern, mit der Suche zu beginnen, aber Paul musste sich erst beruhigen. Also ging ich an den Computer und startete ein einfaches Zweipersonenspiel, das ich für fünf Dollar auf dem Wühltisch bei Staples gekauft hatte. Lustige kleine Figuren liefen durch Flure, stiegen Treppen hinauf und hinunter, suchten Schätze und mussten Fallen aus dem Weg gehen. Paul schniefte und putzte sich die Nase mit dem Taschentuch, das ich ihm reichte. Dann kletterte er auf meinen Schoß. Er tippte auf die Tasten, und bald jagten wir die Bösen, als ginge es um unser Leben. Als seine Tränen getrocknet waren, holte ich ihm Malbuch und Buntstifte, Textmarker und altes Computerpapier, das noch perforierte Seitenränder hatte.
Ich erklärte, ich müsse jetzt arbeiten, und deutete dabei auf den Computer. Das schien er zu verstehen und packte die Buntstifte aus. Wenn man wochenlang in einem Zimmer eingesperrt war, ist Malen wahrscheinlich das Größte.
Sekunden später hatte ich ein kanadisches Online-Telefonbuch aufgerufen. In Montreal und Umgebung gab es viele Leute mit Namen Dumond, darunter auch drei Philippes, alle |55| mit Adresse und Telefonnummer. Dann suchte ich in den Tageszeitungen aus Montreal nach Philippe und Madeline Dumond, wobei ich auch alternative Schreibweisen eingab. In Québec behalten Frauen bei der Eheschließung ihren Namen, können den des Ehemannes aber im gesellschaftlichen Leben verwenden.
In den Archiven der
Montreal Gazette
konnte ich nichts finden. Also suchte ich in der französischen Tageszeitung
Journal de Montréal
.
Dort entdeckte ich etwas: Eine Madeleine Dumond wurde in einem kurzen Artikel im Gesellschaftsteil erwähnt. Sie hatte bei irgendeiner Veranstaltung den Vorsitz geführt. Ins Auge sprangen mir jedoch die Worte:
»Madame Dumond ist die Ehefrau von Philippe Dumond, dem Präsidenten der Agentur Dumond.
«
Ich warf einen Blick auf Paul, der eifrig malte. Dann suchte ich in anderen Zeitungen aus der Region und wurde in einem Hochglanzmagazin namens
Montreal Monthly
fündig. Ein Foto.
Drei Leute in Abendkleidung lächelten mir entgegen.
Madeleine dominierte das Bild: den Kopf zurückgeworfen, mit einem anmutigen Lächeln auf den Lippen. Sie hatte welliges, honigbraunes Haar, hohe Wangenknochen, dunkle Augen und einen großen Mund wie Julia Roberts. Sie war schick gekleidet, vielleicht ein bisschen gewagt im Vergleich zu der anderen Frau. Ihr eng anliegendes, silbernes Kleid ließ eine Schulter frei. Unter dem Bild war zu lesen: »Yves und Geneviève Bédard und Madeleine Dumond beim Galadiner des Spring Festival of Arts.«
Ich schaute mir das Foto genauer an und suchte nach einer Ähnlichkeit mit Paul, seinem dunklen Haar und dem schmalen Gesicht. Ich stellte mir vor, wie diese Frau ihn im Arm hielt, ihm die Haare kämmte, ihn an sich drückte, ihm die Schnürsenkel band und ihn zur Schule brachte. Es gelang mir nicht. |56| Aber ich konnte mir ebenso wenig vorstellen, dass sie entführt und ermordet worden war.
Ich speicherte das Foto und suchte weiter in den Archiven der
Gazette
. Im Wirtschaftsteil wurden Firmen erwähnt, für die Dumonds Agentur als Marketingberater tätig war. Dann landete ich einen Volltreffer: ein winziger
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