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Ein Herzschlag bis zum Tod

Ein Herzschlag bis zum Tod

Titel: Ein Herzschlag bis zum Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara J. Henry
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eine Zahnbürste und einen Kamm für Paul, dann |51| stöberten wir in der Buchhandlung und entschieden uns für
Ich mach mir meine eigene Welt
und ein Uno-Kartenspiel. Beides machte auch ohne Englischkenntnisse Spaß. Auf dem Nachhauseweg nickte ich ein paar Bekannten zu. Plötzlich umklammerte Paul meine Hand, und ich schaute nach unten. Er war ganz blass geworden. Zu spät fiel mir auf, dass die Leute, an denen wir gerade vorbeigegangen waren, französisch sprachen – es kommen so viele Touristen aus Montreal hierher, dass es mir gar nicht aufgefallen war.
    Ich schob Paul in eine Nische, die sich am Eingang eines winzigen Einkaufszentrums befand, kniete mich vor ihn und zog ihn an mich. Dann fragte ich, ob er jemanden erkannt habe.
    Er schüttelte zitternd den Kopf.
    »Was ist denn los?
Qu’est-ce que c’est le problème?
«
    Er murmelte etwas, das ich nicht verstand. Ich sah, wie die Leute weitergingen. Alles an ihrem Verhalten wies sie als Touristen aus.
    Ich schaute wieder zu Paul. Mein Instinkt befahl mir, nach Hause zu gehen. Auf dem Rückweg hielt ich die ganze Zeit seine Hand. Zu Hause rollte er sich in einer Ecke des Sofas zusammen, und ich setzte mich ihm gegenüber in meinen Kapitänsstuhl.
    »
Paul, c’est important que tu me dises si tu connais ces personnes.
« Er sollte mir sagen, ob er vorhin jemanden erkannt hatte.
    Er blickte auf und schüttelte wieder den Kopf, wobei Tränen in seinen Augen schimmerten.
    »
Non, non, je ne les connais pas, pas du tout.
« Nein, er kannte sie nicht. Gut, vielleicht war ihm nur die Sprache bekannt vorgekommen. Ich fragte ihn, ob er in Québec wohne.
    Schweigen. Ein winziges Schulterzucken, das alles heißen konnte. Dann brach er in Tränen aus. Ich nahm ihn in die Arme und drückte ihn an mich.
    |52| »Paul«, flüsterte ich, »
où sont tes parents?
« Wo sind deine Eltern?
    Er drängte sich noch enger an mich. Nach einer langen Pause antwortete er schließlich.
    Seine Mutter sei tot, und sein Vater wolle ihn nicht. Dann brach er in ein herzzerreißendes Schluchzen aus. Nie hätte ich geglaubt, dass ein kleiner Körper solche Laute hervorbringen konnte. Ich fragte nicht, ob sein Vater mit ihm auf der Fähre gewesen sei. Ich wollte es nicht wissen. Noch nicht.
    Dann hob er sein tränenüberströmtes Gesicht und stieß eine Flut von französischen Wörtern hervor, so schnell und undeutlich, dass ich nur wenig verstand. Inzwischen weinte ich auch, hielt ihn fest und wiegte ihn hin und her. Aus einem Impuls heraus schaltete ich geistesgegenwärtig das kleine Aufnahmegerät ein, das ich bei Interviews benutze.
    Nachdem er sich beruhigt hatte, sprach er langsamer. Allmählich verstand ich die Geschichte. Er hatte mit seiner
maman
und seinem
papa
in Montreal gewohnt, bis eines Tages einige Männer ihn und seine
maman
mitgenommen hatten.
    Wann, wusste er nicht genau, in seinem Kopf war alles durcheinander. Vor Weihnachten jedenfalls, denn man hatte ihm ein neues rotes
vélo
versprochen, und das hatte er nie bekommen. Er war in einem großen Auto aufgewacht, nein, in einem Bus, und ihm war schlecht gewesen, und als er wieder aufgewacht war, befand er sich in einem kleinen Zimmer ohne Fenster. Er hatte nebenan Männer gehört und die Stimme seiner
maman
und einen Knall, wie bei den Pistolen im Fernsehen. Dann hatten ihm die Männer gesagt, seine Mutter wäre tot. Wenn er nicht machte, was sie sagten, würden sie ihn auch umbringen. Dann hatte er nur noch geweint.
    Er hatte ganz tief geschlafen. Als er aufgewacht war, war ihm wieder schlecht. Irgendwann war er in einem anderen, kleineren Zimmer aufgewacht. Er hatte einen Softball und ein paar Comics bekommen, und einer der Männer hatte ihm eine |53| Tüte mit kleinen Spielzeugfiguren aus Plastik geschenkt. Wenn es still war und er in der Nähe der Tür lag, konnte er den Fernseher hören, meistens auf Englisch, manchmal auch auf Französisch. Sie hatten ihm Essen ins Zimmer gebracht, Schachteln mit Müsli oder Doughnuts, Cracker oder Äpfel, und abends ein Tiefkühlessen aus einer Plastikschale und manchmal auch eine Tüte von McDonald’s mit einem Spielzeug darin. Dazu hatte er meistens eine kleine Packung Milch bekommen. Wenn er geweint hatte oder aus dem Zimmer wollte, hatten sie ihn geschlagen. Er hatte angefangen, mit einer der kleinen Plastikfiguren ein Loch in die Wand neben dem Bett zu bohren, und es mit seinem Kissen verdeckt.
    Dann hatte er tief geschlafen, unter einer Decke geschlafen, und war sehr müde

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