Ein Herzschlag bis zum Tod
sollte ja nicht stundenlang auf einem Poststapel liegen bleiben. Auf den Zettel darin hatte ich geschrieben:
Vielleicht weiß ich etwas über Ihren Sohn Paul.
Ich holte tief Luft, hängte mir die Tasche über die Schulter und ging raschen Schrittes zum Bürogebäude. Zum Glück musste man am Eingang weder einen Zahlencode eingeben noch eine Karte einstecken.
Die Agentur befand sich im dritten Stock. Ich betrat den Aufzug und holte tief Luft. Lehnte mich gegen das Messinggeländer und schaltete das Aufnahmegerät in meiner Tasche ein. Schweiß rann mir am Körper hinunter.
Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder war Dumond zweifelsfrei unschuldig und überglücklich angesichts der Neuigkeit, dass man seinen Sohn gefunden hatte, worauf wir gemeinsam die Polizei rufen und eine glückliche Wiedervereinigung in die Wege leiten würden.
Oder aber – und das war heikler – er würde schuldbewusst wirken, mir ausweichen, lügen oder gar nicht erst zugeben, |67| dass sein Sohn entführt worden war. Dann müsste ich behaupten, ich hätte mich geirrt, das Foto des falschen Jungen zeigen, mich entschuldigen, das Büro verlassen und dafür sorgen, dass mir niemand zum Auto folgte.
Die Aufzugtür öffnete sich viel zu früh. Ich stand vor den Glastüren, auf denen der Name der Firma in dicken schwarzen Buchstaben verzeichnet war.
Ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass man sich selbstbewusst geben muss, wenn man es nicht ist. Daher begrüßte ich die Frau am Empfang, wobei ich automatisch auf kanadischen Akzent schaltete. Ich bin nicht gerade Meryl Streep, aber kanadisches Englisch ist einfach. Etwas deutlichere Betonung,
A
und
O
ein bisschen anders aussprechen. Ein paar landestypische Ausdrücke benutzen.
Ich erklärte, die FedEx-Sendung sei in meinem Büro abgegeben worden, wo eine Phyllis Dumond arbeite. Sie habe den Empfang bestätigt und den Brief entgegengenommen und geöffnet und erst dann gemerkt, dass er nicht für sie bestimmt war. Meine Chefin sei beunruhigt, weil wir fremde Post geöffnet hatten und habe mich deshalb hergeschickt. Ob Mr. Dumond kurz nachschauen könne, ob der Brief für ihn sei?
»Selbstverständlich.« Sie lächelte mitfühlend, als ich angesichts meiner überbesorgten Chefin die Augen verdrehte. »Ich kümmere mich sofort darum.« Sie verschwand mit dem Umschlag, kam zurück, und bevor ich bis zehn gezählt hatte –
aufblicken, Umschlag annehmen, Umschlag öffnen, Notiz lesen
–, war er schon da.
Selbst ich erkannte, dass er Armani trug, was an manchen Leuten sackartig wirkt, an ihm aber wie, nun ja, Armani. Er war groß und schlank, mit scharf geschnittenem Gesicht und dichtem dunklem Haar, das er länger als die meisten Geschäftsleute trug – das perfekte Pendant zu der eleganten Frau, die ich auf dem Foto gesehen hatte. Ohne die leicht schiefe Nase hätte man ihn als unerträglich gutaussehend bezeichnen können. Er |68| sprach mit der Empfangsdame und sah mich eindringlich an, während sie auf mich zeigte. Ein kaum merkliches Zögern, eine kurze Unentschlossenheit, dann war er wieder der selbstsichere Geschäftsmann, der sich geschmeidig auf mich zubewegte.
»Haben Sie mir diesen Umschlag gebracht?«, fragte er mit sanfter, kultivierter Stimme ohne die Spur eines französischen Akzents. »Dürfte ich fragen, wann er abgeliefert wurde?«
Ich räusperte mich. »Eigentlich kommt er nicht von FedEx, sondern von mir.«
Einen Sekundenbruchteil lang schien er zu erstarren, mit einem angedeuteten Lächeln auf den Lippen und dem Umschlag in der Hand.
»Ich würde gern mit Ihnen sprechen«, sagte er mit hochgezogenen Augenbrauen. »In meinem Büro?«
Ich nickte mechanisch. Mein Herz hämmerte so laut, dass er es sicher hören konnte. Wo war die Intuition, auf die ich mir so viel eingebildet hatte? Gewiss hätte ein unschuldiger Mann emotionaler reagiert, nicht so kühl und gefasst, als ginge es um die Rechnung von der chemischen Reinigung.
Ich folgte ihm in sein Büro und registrierte dabei, wie dick der Teppich unter meinen Füßen war. Sein Büro sah genauso aus, wie ich es mir vorgestellt hatte: elegante Kirschholzmöbel, champagnerfarbener Teppich, Bücherregale, braune Ledersessel.
Er bewegte sich so rasch, dass ich es nicht bemerkte. Ich hörte noch, wie die Tür geschlossen wurde, dann wurde ich quasi von den Füßen gerissen und gegen die Wand gepresst. Er legte seine Hand um meine Kehle und drückte mit der Hüfte gegen meinen Körper. Sein Gesicht war so nah an meinem,
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