Ein Herzschlag bis zum Tod
vorzugaukeln, ihre Freundin sei noch am Leben. |203| Ich hatte unüberlegt gehandelt, doch nun war das Kind in den Brunnen gefallen. Um Zeit zu gewinnen, drückte ich auf Antworten und tippte:
Hab viel zu erzählen – demnächst mehr. Wie geht’s dir?
Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Ich hatte die Flasche geöffnet und konnte den Geist nicht mehr hineinzwingen.
Mein Gesicht brannte vor Scham, als ich das Programm schloss und den Computer herunterfuhr.
Dann verließ ich geradezu fluchtartig das Haus, um in der Bücherei die bestellten Bücher über Kindesentführungen abzuholen:
Ich weiß nur, mein Name ist Steven. Ihm in die Augen sehen – meine verlorene Kindheit. Unsichtbare Ketten
. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, lieh ich noch ein paar Romane von Ruth Rendell und Michael Robotham aus.
Als ich die Bücher in mein Zimmer brachte, hörte ich Philippe und Paul nach Hause kommen. Ich ging zu ihnen in die Küche, wo sich Paul gerade über einen Snack hermachte, den Elise für ihn vorbereitet hatte. Ich erfuhr, dass die Schule klasse, die Kinder lustig, die Lehrer nett waren, das Essen aber nicht so toll schmeckte – und dass Philippe ebenfalls den ganzen Tag dort verbracht hatte.
Er zuckte mit den Schultern. »Es war ja der erste Tag.«
Also war Papa tatsächlich die ganze Zeit über in der Nähe geblieben. Für den ersten Tag war das sicher prima. Dann wurde mir klar, dass Philippe sich seiner Sache gar nicht sicher war, was eigentlich nicht zu ihm passte. Doch er improvisierte, genau wie wir alle.
Als Paul zur Mittagsruhe nach oben ging, begab sich Philippe ins Büro. Nach ein paar Minuten war er wieder da.
»Ich kann eine Datei nicht finden, an der ich gearbeitet habe. Das macht mich verrückt – könntest du mal einen Blick draufwerfen?«
Ich folgte ihm ins Büro. Er benutzte das Programm, mit dem er den Desktop seines Bürocomputers hier aufrufen konnte. |204| Ich suchte rasch. Nichts. »War es eine neue Datei, oder hattest du sie schon bearbeitet?«
»Sie kam heute als Anhang einer E-Mail .«
»Hast du sie direkt aus der Mail geöffnet?«
Er nickte.
Jetzt wusste ich, wo sie steckte – in einem Ordner mit temporären Dateien, auf den die Suchfunktion nicht zugreifen kann. »Du musst die Dateianhänge sichern, bevor du sie bearbeitest. Zeig mir mal die Mail.« Er rief sie auf. Ich klickte auf die angehängte Datei, fand den Ordner, in dem sie gelandet war, und zeigte Philippe, wie er sie an einer anderen Stelle abspeichern konnte.
»Aha. Bei dir sieht es so einfach aus.« Ist es auch, aber ich hatte selbst viele Dateien verloren, bevor ich es gelernt hatte.
»Warte mal. Könntest du mir zeigen, wie man einstellt, dass die Dateiendungen angezeigt werden?«
Die Standardeinstellung bei Windows versteckt Dateiendungen wie .doc, .exe, .pdf und .jpg, was ich für total blöd halte. Also zeigte ich ihm, wie man eine andere Option wählt.
»Sekunde mal«, sagte Philippe und schaute mir über die Schulter. »Das muss ein Fehler sein. Diese Datei hier ist angeblich von heute.«
»Das ist der Tag, an dem du sie zuletzt gespeichert hast, nicht der, an dem sie erstellt wurde.«
»Genau das meine ich ja. Es ist das heutige Datum, aber ich habe sie heute nicht benutzt – und niemand hat Zugriff darauf, nur ich.«
»Vielleicht ist am Computer das falsche Datum eingestellt.« Ich fuhr mit dem Cursor über den Dateinamen, klickte zweimal, und es öffnete sich ein Fenster:
Die Datei wird von einem anderen Benutzer verwendet. Möchten Sie eine Kopie erstellen?
»Hm«, sagte ich und versuchte es mit einer anderen Datei, die sich problemlos öffnen ließ. Ich schloss sie wieder und |205| klickte auf die erste. Noch immer nicht verfügbar. »Houston, wir haben ein Problem«, murmelte ich.
»Und das wäre?«
»Die Datei lässt sich nicht öffnen. Sie ist entweder beschädigt oder wird tatsächlich gerade verwendet.« Ich schloss den Dateimanager und startete ihn erneut. Jetzt wurde eine andere Uhrzeit angezeigt. Ich klickte auf die Datei, sie ließ sich öffnen. Dann drehte ich mich zu Philippe. »Jemand greift auf deine Dateien zu. Könnte es deine Sekretärin sein?«
»Nein, weder sie noch sonst jemand. Ich habe meinen Computer angelassen, damit ich dieses Programm verwenden kann, aber niemand außer mir darf ihn benutzen.« Er sah auf die Uhr. »Entschuldige, ich rufe im Büro an.« Er nahm sein Handy aus der Tasche und ging nach draußen. Als er wiederkam, erklärte er mir, er habe die
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