Ein Herzschlag bis zum Tod
hatte ich kein Recht.
Ich hatte auch nicht das Recht gehabt, sie zu lesen, aber es war nun einmal geschehen. Und in diesen E-Mails konnte sich etwas verbergen, das uns den Weg zu den Entführern wies: ein Name, ein Datum, ein Hinweis, was Madeleine in den letzten Tagen vor ihrer Entführung gemacht hatte. Vielleicht hatte die Polizei die Mails gesehen, vielleicht auch nicht; vielleicht hatten sie etwas darin übersehen.
Ich druckte sie aus, ließ die französischen durch ein Online-Übersetzungsprogramm laufen und druckte die Übersetzungen ebenfalls aus. Dann schaltete ich den Computer aus, ging |195| nach unten und versteckte den Papierstapel in der untersten Schublade meiner Kommode. Mir war ganz schlecht. Nie hätte ich gedacht, dass ich diese Grenze überschreiten würde.
Ich ließ mir von Elise etwas geben, das den Magen beruhigte. Dann schwang ich mich aufs Fahrrad und trat mit aller Kraft in die Pedale.
Paul und Philippe waren von der Psychologin zurück, als ich nach Hause kam. Sie waren gut gelaunt, es sei prima gelaufen, sagte Philippe. Die Psychologin hatte gesagt, die Tatsache, dass Paul seine Kleidung wasche, und seine Reaktion auf den Mittagsschlaf zeigten, dass er die Ereignisse verarbeite und sich an die neue Umgebung anpasse. Und es schien Paul nichts auszumachen, seinen Onkel an diesem Abend zu sehen, auch wenn er nicht sonderlich begeistert wirkte.
Einerseits war ich gespannt, einen Verwandten von Madeleine kennenzulernen, aber auch skeptisch. Vielleicht hatte Philippe das Richtige getan, als er hergezogen war: ein neues Haus, eine neue Stadt, eine neue Schule, neue Freunde – sogar eine neue Sprache. Er hatte die Vergangenheit hinter sich gelassen, doch mit Claude war ein Teil seiner Vergangenheit mitgekommen.
Nach dem Mittagessen fuhr Philippe zur Arbeit, und Paul machte ein Schläfchen. Ich zerbrach mir den Kopf, was ich anziehen sollte. Mir fehlt einfach das weibliche Einkaufs-Gen. Dafür brauche ich Freundinnen wie Kate, die mühelos tolle Klamotten zu Schnäppchenpreisen finden und mich in null Komma nichts ausgestattet hätten. Ich entschied mich für meine Cordhose und einen Pullover, den Zach mitgebracht hatte. Ich versuchte, die Hose zu bügeln, doch das ließ Elise nicht zu. Darüber war ich ganz froh; wann immer ich mich im Bügeln versuche, gibt es nachher mehr Falten als vorher.
»Pauls Onkel wohnt also hier in Ottawa«, sagte ich, während Elise energisch das Bügeleisen schwang. Sie warf mir |196| einen raschen Blick zu, der verriet, dass Claude nicht gerade zu ihren Lieblingen gehörte, und nickte.
»Standen er und seine Schwester sich sehr nahe?«
Erneutes Nicken. »Meistens.« Ihr Tonfall sagte mir, dass ich von ihr nicht mehr erfahren würde. Gute Kindermädchen klatschen nicht, und sie war ein gutes Kindermädchen.
»Hat Paul noch andere Tanten und Onkel?«
»Nein«, antwortete sie diesmal bereitwillig. »Monsieur Philippe ist ein Einzelkind, und ansonsten gab es nur Claude und Madeleine.« Sie reichte mir die perfekt gebügelte Hose und ich bedankte mich.
Philippe kam nur eine knappe Viertelstunde vor Claude nach Hause und konnte uns gerade noch begrüßen und sich umziehen. Als er wieder auftauchte, hatte er Claude dabei. Mein Herz hämmerte – mir war, als würde ich einem Teil von Madeleine begegnen.
Claude hatte unauffällige Züge, einen misstrauischen Blick und sah auf eine nachlässige Weise gut aus. Bis auf die Haarfarbe konnte ich jedoch keine Ähnlichkeit zwischen ihm und seiner Schwester erkennen. Er war absolut höflich, gab mir fest die Hand und schenkte Paul einen kleinen Stoffhund, der redete, wenn man ihn drückte. Paul nahm ihn ebenso höflich entgegen und sagte auf Englisch: »Vielen Dank, Onkel Claude.«
Keine Umarmung für ein Kind, das monatelang weg gewesen war. Irgendwie überraschte es mich nicht.
Vorsichtig ausgedrückt: Es war kein berauschender Abend. Paul war ordentlich angezogen, hatte das Haar gekämmt, und Tiger war in die Küche verbannt worden. Das Essen schmeckte exquisit. Paul wirkte teilnahmslos und gab einsilbige Antworten. Philippe benahm sich tadellos, wirkte aber nicht gerade entspannt. Ich selbst fühle mich in neuen Situationen niemals wohl, und diese hier war besonders unangenehm. Wir konnten nicht über Madeleine sprechen oder über das, was Paul zugestoßen war. Die Themen beschränkten sich aufs Wetter |197| und das ausgezeichnete Essen. Außerdem sprach Claude gelegentlich Französisch – vermutlich glaubte
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