Ein Herzschlag bis zur Ewigkeit
Wachstuch herum. Mit niedergeschlagenen Augen beantwortet er in bockiger Monotonie LaPointes Fragen. Einmal macht er einen Fehler: Er wird frech.
Mit zwei Schritten durchmißt LaPointe das Zimmer und packt den Jungen am Kragen seiner Kunstlederjacke: »Was glaubst du wohl, was passiert, wenn ein Bulle hinter dir her ist und du ziehst diese verdammte Wasserpistole? Ha? Dann könntest du für acht lausige Piepen ins Gras beißen!«
In den Augen des Jungen ist Angst, auch Trotz.
LaPointe läßt ihn auf den Stuhl fallen. Was soll's?
Es ist eine Erstübertretung. Der Lieutenant kann die Sache hinbiegen, kann dem Jungen einen Job auf der Main besorgen, aufwischen in irgendeinem Restaurant. Der Junge wird dem Zeitungsverkäufer den Schaden ersetzen. Er wird nicht in die Akten kommen. Das nächste Mal aber …
Als er geht, hört er die Mutter jammern, da trage man neun Monate lang ein Kind unter dem Herzen, und was sei der Dank? Herzeleid! Nichts als Herzeleid!
Es wird ein nächstes Mal geben.
Gegen die Verwüstung des Bauplatzes unternimmt LaPointe nichts, obwohl das nicht zum erstenmal passiert ist. Er tut, als ob er was täte, aber er tut nichts. Seine Sympathie gilt den Menschen, die ihr Heim verloren haben und in die Vorstadt-Slums aus Glas und Zement verfrachtet worden sind, die aus schlammigen ›grünen Zonen‹ mit mageren, ein Jahr alten und mit Tuchfetzen an Pfählen angebundenen Bäumchen emporschießen.
Straßenecken, ganze Reihenhausblöcke werden abgerissen, um Platz für Geschäftsbauten zu schaffen. Enge Sträßchen dreistöckiger viktorianischer Ziegelhäuser mit bleiplattengedeckten Mansardendächern fallen dem Bedürfnis zum Opfer, Handel und Kleinindustrie zu zentralisieren, ohne den Grundbesitz und die Lebensqualität in den besseren Vierteln der Umgebung anzutasten. Die Bewohner der Main sind zu arm, zu unwissend und politisch zu machtlos, um sich gegen die stadtväterliche Tyrannei der Stadtplanungsausschüsse zu wehren. Die Main ist eben ein Slum. Schlechte Installationen, Ratten und Schaben, unzureichende Spielplätze. Mit dem Umsiedeln tut man den Einwanderern nur einen Gefallen. Man hilft ihnen aus dem sprachlichen und kulturellen Getto heraus, das ihnen die Assimilation an Neu-Montreal erschwert: Chicago am Sankt-Lorenz-Strom.
Obwohl LaPointe weiß, daß dieses blinde Wüten gegen die Bauplätze nichts ändern wird, daß die kleinen Leute von der Main die Schlacht und am Ende ihre Identität verlieren werden, versteht er ihr Bedürfnis zu protestieren, irgend etwas aufzureißen.
Subtiler als diese drastischen Attacken auf die Main sind die fortwährenden Aufweichungserscheinungen, die von außen in sie eindringen. Einzelne und Organisationen haben herausgefunden, daß die Konservierung dessen, was von Alt-Montreal übriggeblieben ist, eine gewinnbringende Aktivität sein kann. Unter dem Vorwand der Erhaltung alter Bausubstanz werden reihenweise Häuser aufgekauft und ausgeschlachtet, bis nur noch ›malerische‹ Schalen übrigbleiben. Warmwasser und Zentralheizung werden installiert, die Räume vergrößert und hochherrschaftliche Wohnungen für wohlhabende und mit der Zeit gehende junge Anwälte, Karrieremädchen und Innenarchitekten geschaffen. Es ist schick, seine Freunde mit der Eröffnung zu überraschen, man wohne auf der Main. Diese Leute aber wohnen gar nicht auf der Main; sie spielen Wohnen auf der Main.
LaPointe muß das alles mitansehen. In seinen bittersten Stunden spürt er, daß diese Blase in seiner Brust mit alledem im Einklang steht. Es wird wohl nicht viel Sinn haben, die Main zu überleben.
Als er am Donnerstagmorgen ins Büro kommt, knistern seine Nerven. Durch Zufall hat er erfahren, daß Scheer mit der Ankündigung hausieren geht, er werde über kurz oder lang wieder auf der Main sein. Es liegt auf der Hand, daß der Commissioner seinem Bekannten aus der Politik Bericht erstattet hat.
Nachdem er den Frühbericht durchgesehen hat, klaubt er in dem drei Tage überfälligen Papierkram herum, der sich seit Guttmanns Abgang angesammelt hat. Dann stößt er auf ein Memo von Dr. Bouvier, der ihn bittet, doch mal runter in die Gerichtsmedizinische zu kommen, wenn er sich kurz freimachen kann. Wie immer löst der Geruch von Wachs, Chemikalien, Staub und Hitze in der Kellerhalle Erinnerungen an St. Joseph in ihm aus: moue, tranches, die Ruhmeshöhle, Unsere Liebe Frau von der löchrigen Backe …
Als LaPointe zu ihm ins Büro kommt, läßt Bouvier gerade aus seiner
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