Ein Herzschlag danach
auf. »Mit mir? Was soll mit mir sein?«
»Kein Freund?«
Jetzt hatte er es wieder einmal geschafft, mich abzulenken. »Äh, hm, nein. Hab ich dir doch schon gesagt. In London läuft das nicht so. Außerdem gibt’s in einer Mädchenschule keine große Auswahl an Jungen.«
Und: Ich bin in dich verliebt, fügte ich in Gedanken hinzu. Ich hatte noch nie einen richtigen Freund. Geküsst ja, aber keinen Freund. Einmal hatte mich ein Junge ins Kino eingeladen und ich hatte zugesagt, weil ich glaubte, es würde mich von dem Jungen ablenken, der auf der anderen Seite der Welt lebte und keinen blassen Schimmer davon hatte, dass ich ihn anhimmelte. Während des gesamten Films hatte ich mir vorgestellt, dass Alex neben mir saß und dass es sein Arm war, der sich um meine Schultern legte. Deshalb ließ ich auch zu, dass sich der Junge herüberbeugte und mich küsste. Ich schloss die Augen und küsste ihn zurück. Dann öffnete ich die Augen und war wieder bei vollem Verstand. Das war nicht Alex. Alex küsste bestimmt besser.
Der zweite Kuss war noch schlimmer gewesen. Mein Dad hatte mich zu einer Weihnachtsparty in sein Krankenhaus geschleppt und ein betrunkener Medizinstudent hatte sich buchstäblich auf mich gestürzt. Zum Glück waren jede Menge Ärzte und Krankenschwestern anwesend, denn er musste danach über der Augenbraue mit drei Stichen genäht werden. Es war keine Absicht gewesen. Das Glas hatte sich wie von selbst in sein Gesicht geschmettert. Mit dieser Reaktion hatten weder er noch ich gerechnet.
Deshalb: kein Freund.
Alex ließ das Thema fallen. Er hatte mich damit nur von meinen Fragen ablenken wollen. Es war ihm gelungen und das ärgerte mich.
»Na, dann erkläre mir wenigstens, warum Jack nicht mehr mit meinem Vater reden will? Warum hasst er ihn so sehr?«
Alex schob den Magnet, den ich über mein Gesicht gerückt hatte, wieder auf seine frühere Position zurück. Wie hatte er bloß bemerkt, dass ich das getan hatte? Dann schaute er auf das Foto meiner Mutter und ich folgte widerwillig seinem Blick.
»Sie ist der Grund, Lila.« Er sah mich an; seine Augen wirkten jetzt graublau.
Ich biss die Zähne zusammen. »Aber das ist total absurd. Dad hat doch meine Mutter nicht umgebracht!«
Er blickte mich lang an. Zwischen seinen Augen war eine senkrechte Falte. »Komm, wir setzen uns und reden mal darüber.«
Im Wohnzimmer zog Alex die Vorhänge zu, natürlich nicht, ohne vorher die Straße in beide Richtungen überprüft zu haben. Jack und er litten wirklich unter Verfolgungswahn. Erst dann schaltete er das Licht ein.
Ich setzte mich aufs Sofa, zog die Beine unter mich und wartete auf Alex’ Erklärung. Er stellte sich unter das große Fotoporträt meiner Mutter. Es war verblüffend, wie ähnlich Mum und ich uns waren. Das war mir bisher nie so richtig aufgefallen, weil mein Vater nicht sehr viele Bilder meiner Mutter aufbewahrte. Kinn und gerade Nase hatte ich von meinem Vater, aber in allem anderen war ich ihre Tochter: Wir hatten dieselbe Haar- und Augenfarbe und das gleiche ovale Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Ich hatte meine Mutter immer für wunderschön gehalten und der Schock, dass ich all diese Merkmale von ihr geerbt hatte, haute mich fast um.
»Du bist ihr sehr ähnlich«, sagte Alex, der offenbar wieder einmal meine Gedanken hören konnte.
Ich stand vom Sofa auf und trat neben ihn. »Das ist mir früher nie besonders aufgefallen, aber bei diesem Foto sehe ich es.«
Ich spürte Alex’ Körperwärme. Ich ging ihm nur bis zur Schulter und musste mich gegen die Versuchung wehren, mich an ihn zu lehnen.
»Jack ist wütend auf deinen Vater, weil er glaubt, dass er nicht genug um sie gekämpft hat. Jack will nicht aufgeben, bis die Mörder gefangen sind.«
Das verschlug mir die Sprache, doch dann brachte ich mühsam hervor: »Aber … das ist doch lächerlich! Die Polizei hat alles untersucht. Sie haben die Täter nicht erwischt! Was hätte mein Vater noch tun können?«
Alex’ Atem strich über mein Haar. Dann wandte er sich abrupt ab und setzte sich auf das Sofa, die Arme auf die Knie gestützt.
»Dein Vater konnte nichts tun. Tief im Innern weiß Jack das auch, aber er wird deinem Vater Vorwürfe machen, bis er selbst die Mörder findet. Für ihn ist dein Vater so etwas wie ein Sündenbock.«
Es dauerte eine Weile, bis ich diese Information verdaut hatte. »Bis er die Mörder findet … Sucht er etwa nach ihnen?«
Ich spürte, wie ich von Panik gepackt wurde. Ich taumelte auf
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