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Ein Hologramm für den König

Ein Hologramm für den König

Titel: Ein Hologramm für den König Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dave Eggers
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Grundstücken hier zu kaufen. Er könnte eins oder zwei kaufen, sie die Hälfte des Jahres vermieten und trotzdem Profit rausschlagen. Er war mitten in den Berechnungen, als ihm bewusst wurde, dass er nicht der Mann war, der so etwas machen konnte. Er hatte kein Geld dafür.
    Er griff ins Wasser, um sich eine Muschel anzuschauen, die heil aussah. Sie war ganz, makellos, eine Art Kammmuschel. Er steckte sie in die Tasche. Er fand noch eine, diesmal eine Kaurimuschel, glasig, hellbraun und leopardenfellartig, mit Dutzenden weißen Flecken. Er hatte früher schon Kaurimuscheln gehabt, und wahrscheinlich hatte er noch immer fünf oder sechs irgendwo in einer Dose. Aber er hatte noch nie eine einfach so im Wasser gefunden. Sie war noch dazu perfekt – er drehte sie wieder und wieder um und sah, dass sie intakt war, ohne einen Kratzer. Die Zähne waren glatt, unterschiedlich. Es gab keinen Grund dafür, warum sie so schön war.
    Als kleiner Junge hatte er Muscheln gesammelt. Nicht sehr ernsthaft, aber er kannte die Namen von einigen der bekanntesten Sorten. Er hatte ein Buch, an dessen Aussehen und Gewicht er sich noch immer erinnerte, in dem die weltweit berühmtesten und wertvollsten Muscheln und Schnecken aufgelistet waren. Eine davon, die Conus gloriamaris , der Ruhm des Meeres, sollte Tausende wert sein. Er konnte sie sich heute vorstellen, ein länglicher Kegel, verziert mit Tausenden kleinen Windungen, zwanghaft und wie mit der Hand gezeichnet. Das Gehäuse war unglaublich selten. Angeblich kaufte 1792 ein Sammler, der eines der wenigen Exemplare weltweit besaß, ein weiteres auf einer Auktion, nur um es zu zerstören, damit sein erstes Exemplar noch wertvoller wurde. Alan hatte ständig in dem Buch geschmökert, und weil seine Mutter dachte, das Sammeln, das Einprägen von Zahlen, die obsessive Beschäftigung mit steigenden und fallenden Marktkursen würden seinen Geschäftssinn schärfen, kaufte sie ihm weitere Bücher, und er lernte die Namen auswendig und die Meere, in denen es sie gab.
    Er krempelte die Hosenbeine bis zu den Knien hoch, bückte sich und benetzte sein Gesicht. Er leckte sich die Lippen, schmeckte das Salz.
    Als Kit noch klein war, saßen sie oft am Strand, auf Cape Cod, an der Küste von Maine, manchmal in Newport. Sie hockte dann auf seinem Schoß, und zusammen harkten sie mit den Fingern durch die Steinchen und den Sand auf der Suche nach Seeglas und besonderen Muscheln und Sanddollars. Sie verglichen ihre Funde, warfen die besten in ein Marmeladenglas, aus dem sie das Kleingeld geschüttet hatten. Er vermisste sie in dem Alter. Ihre Größe damals, ihr Gewicht, wenn sie bei ihm auf dem Schoß saß. Sie war da drei oder vier Jahre alt, und er konnte sie hochheben, sie umhüllen. Er konnte sie an sich drücken, sie völlig bedecken, wenn sie weinte, ihr verfilztes Haar riechen, hinter ihrem Ohr schnuppern. Er schnupperte zu oft an ihr, das wusste er. Er hörte auch nicht damit auf, als sie sieben war, als sie zehn war. Ruby warf ihm missbilligende Blicke zu, aber er konnte nicht aufhören. Als sie vierzehn war, wollte er noch immer seine Nase an ihren Hals drücken, ihre Haut riechen.
    Er dachte sich einen Brief aus, den er ihr schreiben könnte. Er würde ihr sagen, dass ihre Erwartungen an ihre Mutter unfair seien. Er fragte sich, ob Kit wusste, dass Ruby sie auf natürlichem Weg zur Welt gebracht hatte, ohne Schmerzmittel, ohne Epiduralanästhesie. Würde Kit das beeindrucken? Wahrscheinlich erst, wenn sie es selbst versuchte.
    »Kit, Du sagst, Deine Mutter hat sich nicht verändert, aber das hat sie. Sie hat sich zigfach verändert. Es ist wichtig zu wissen, dass es bei Erwachsenen zwar eine ständige Entwicklung gibt, aber nicht immer eine Verbesserung. Es gibt Veränderung, aber nicht unbedingt Wachstum.«
    Das war wahrscheinlich keine Hilfe. Vielleicht täuschte er sich. Ruby hatte sich so gut wie gar nicht verändert. Sie war immer unmöglich gewesen. Zu stark und zu schlau und zu grausam und die ganze Zeit zu ruhelos, um mit einem Mann zufrieden zu sein, der Fahrräder verkaufte. Und alles nach ihrer ersten Begegnung war eine Enttäuschung.
    Er war geschäftlich in São Paulo gewesen. Da war er bei Schwinn. Sie hatten vor, dort eine neue Fabrik aufzumachen, ein halbes Dutzend Modelle auf den Markt zu bringen, sie in Südamerika zu verkaufen, die Zölle zu umgehen, aber die Reise war ein Flop gewesen. Der Kontaktmann vor Ort war ein Spinner, ein Dieb. Er hatte gedacht, sie würden ihm

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