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Ein Hund mit Charakter

Ein Hund mit Charakter

Titel: Ein Hund mit Charakter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Nachmittagspost einwarf; im ersten günstigen Augenblick entwischte er in die Diele, und bald darauf waren nur noch Papierfetzen übrig vom braun verpackten und mit Kreuzband verschnürten Tagblatt … War das eine Zwangsvorstellung? Tschutora ließ uns darüber im unklaren. Und daß er den Postboten, der offensichtlich Komplize der Attacke war, die man Tag für Tag in der fernen Stadt gegen ihn plante und ausführte, bei erster Gelegenheit in den Knöchel biß, war irgendwie verständlich. Der Briefträger selbst deutete es so und nahm die Sache nicht sonderlich übel. Doch bald darauf kam es zu dieser merkwürdigen Veränderung in Tschutoras Charakter, unverständliche Leidenschaften bemächtigten sich seiner und prägten seine Gemütsverfassung. Vielleicht war dieser Wandel nichts anderes als die Manifestation dessen, was man gemeinhin Charakter nennt. Und Tschutora demonstrierte diesen seinen wahren Charakter, er schockierte damit jeden, der in seiner Umgebung lebte, mit ihm zu tun hatte, und ließ ihn vor Angst erbleichen.
    Es wird behauptet, Hunde nähmen den Charakter ihres Herrn an und würden ihm mit der Zeit ähnlich. Diese landläufige Vorstellung müssen wir zurückweisen. Der Hund hat, wie jedes höhere organische Wesen von der Ratte aufwärts, einen ganz individuellen Charakter, den man beeinflussen, aber weder unterdrücken noch wesentlich verändern kann. Es gibt eben gute und böse, zahme und hinterhältige, Faule und Streber auch unter den Hunden. War Tschutora hinterhältig? War er böse? Auf diese Fragen läßt sich nur unter Vorbehalt eine Antwort geben. Vor allem war er ängstlich – unbegründete Ängste verfolgten ihn sein ganzes kurzes Hundeleben lang: Er hat sich nie vor Menschen, vor irgendeinem Lebewesen gefürchtet, dagegen stimmte er einmal bei der Konfrontation mit einem Bettbezug ein unerklärliches, klägliches Wimmern an; auch erfaßte ihn beim Klang einer fremden Stimme, beim Anblick der Zeitung eine geradezu neurotische Angst, sein Zorn und seine Scham kannten dann keine Grenzen. Wenn er im Zimmer der Dame unversehens ein bestimmtes lilagestreiftes Sofakissen erblickte, überfiel ihn pures Entsetzen, er erbleichte förmlich, und der Angstschweiß stand ihm auf der Stirn, er heulte, ergriff die Flucht, als wäre ihm Beelzebub persönlich begegnet, das Phantom der anderen Welt, der Bote des Todes. Mit dem Verstand sind solche rätselhaften Ängste von Hunden nicht zu erklären. Tschutora stürzte sich todesmutig auf hünenhafte Installateure, nicht selten sogar auf gefährliche Bluthunde, aber vor dem lilagestreiften Sofakissen floh er unter erbärmlichem Angstgeheul. Er hat also den Briefträger gebissen, hinterhältig, leise schleichend wie eine Viper, und sich dann hinter dem Ofen verdrückt, zwei Tage kam er nicht zum Vorschein. Irgendwann kroch er doch hervor, etwas abgemagert, unausgeschlafen, zerzaust, wie der Mörder im Kino, der sich auf Gnade und Barmherzigkeit ergibt. Nach einhelliger Meinung von Hundeexperten war das der Augenblick, zu dem man Tschutora hätte anständig verdreschen müssen.
    Doch die Dame schritt ein. Der Hund würde sich an seine Tat vor zwei Tagen nicht mehr erinnern, außerdem sei Schlagen auch sonst keine Lösung! Und wie sähe die Lösung aus? Sie wußte es nicht – und in der Tat, wer will da wissen, was die Lösung ist? Dem Herrn blieb gar nichts anderes übrig, er gab ihnen recht, der Dame und Tschutora – er konnte dies um so leichteren Herzens tun, als der brave Briefträger selbst schon lächelnd von dem Anschlag sprach, und Tollwutgefahr war von Anfang an ausgeschlossen, weil erst kurz zuvor ein literarisch versierter Tierarzt Tschutora geimpft hatte. Ja, vielleicht wäre es wirklich die beste Lösung gewesen, ohne großes Aufsehen über den Vorfall hinwegzugehen und dem Hund zu verzeihen, daß er Schande über die Familie gebracht hat, ihn mit Liebe und Geduld zu zähmen, ihm in Gewissen und Seele zu reden, auch wenn er noch so wenig davon besaß. Gibt es denn überhaupt eine andere Lösung, eine andere Waffe als Geduld und Liebe? Die Gesellschaft behauptet, daß es sie gibt – zum Beispiel die Knute und den Schinder. Doch wenn wir uns schon einmal aus fester Überzeugung zum Lebensprinzip gemacht haben, uns in jeder Beziehung, immer und überall, wo dies möglich ist, gegen die Knute und den Schinder aufzulehnen, denkt der Herr – warum sollten wir diesen Grundsatz gerade im Fall von Tschutora über Bord werfen? Nein, das kommt ja

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