Ein Hund mit Charakter
alle Geheimnisse ihres Lebens eingeweiht, ihm uneingeschränkt die kleine und, soweit dies möglich war, auch die große Welt eröffnet. Und weil es ohne Opfer ja kein Zusammenleben gibt, verzichteten sie ihm zuliebe zeitweise sogar auf die für sie so wichtige »Disziplin«. Sie wandelten geduldig mit ihm auf der Generalswiese, deren landschaftliche Reize den Herrn sicher weniger entzückten als Tschutora, sie duldeten, daß er die Möbel der Wohnung nach eigenem Gutdünken nutzte, daß er seine Sympathien und Abneigungen offen zum Ausdruck brachte, gingen, was sonst ganz und gar nicht zu ihren Gewohnheiten gehört, Aufwartungen machen in der Welt, um gegen ihn gerichtete feindselige Gefühle zu mildern, nahmen in Kauf, daß er gegenüber alten, vertrottelten Artgenossen gleichen Geschlechts seinen unzüchtigen Neigungen freien Lauf ließ, ohne Ende wischten und putzten sie hinter ihm her, nahmen ihn in Schutz, wenn Experten, Ärzte und ältere Herren in grünem Loden seine Abstammung anzweifelten. Wenn er spielen wollte und die Uhrzeit es einigermaßen zuließ, spielten sie mit ihm, und es lag nur an ihm, an seiner bäuerlichen Scheu und Schüchternheit, daß sie bei Tisch nicht jeden Bissen mit ihm teilten.
Mehr noch, und das ist wichtiger als alles bisher Gesagte: Sie räumten ihm einen Platz innerhalb ihres Egoismus ein, der uns Menschen nur im äußersten Fall erlaubt, fremde Wesen in unseren Lebensbereich aufzunehmen, was vielleicht gar nichts anderes ist als die Angst vor dem Tod. Auch diese Angst überwanden sie, haben Tschutora akzeptiert trotz aller Enttäuschungen, die ihnen seine Entwicklung bereitete, indem er die Erwartungen, die man in ihn setzte, nicht erfüllte; denn statt zu einem wuscheligen echten Puli wuchs er sich zu einem mürrischen halben Kuvasz, einer unberechenbaren Bestie aus. Sicher, dafür ist eher dieser Zoowärter im Schafspelz als er verantwortlich zu machen; aber hat je einer der Hausgenossen Tschutora seine niedrige und zweifelhafte Abstammung spüren lassen? Nachsicht und Ermutigung sind ihm in seinen Lebenskrisen zuteil geworden, Beistand und Fürsorge, wenn er deren bedurfte; und dafür, daß er wie russische Seelen zu selbstanklägerischen Anwandlungen neigt, wenn er die Landkarte Großungarns mit Sorgfalt in Morgenröcke nagt oder sich mit blutrünstiger Wut über Werke englischer Autoren hermacht, kann wirklich niemand …
Nein, seine Herrschaften prüfen ihr Gewissen und finden keine Gründe, Tschutora gegenüber Schuldbewußtsein an den Tag zu legen. Sie haben ihm seine Jugend nicht durch pedantische Erziehungsprinzipien vergällt oder ihm aus übertriebenem Ehrgeiz etwas zugemutet, das seinem Naturell widersprochen oder ihn gar erniedrigt hätte, niemals mußte er mit einem roten Sonnenschirm in der Pfote auf zwei Beinen laufen. Man hat es ganz ihm überlassen, zu leben und sich in Gottes Namen so zu entwickeln, wie es ihm behagte. Und dann ließ er eines Tages die Maske fallen und zeigte sein wahres Gesicht – aber über diese Geschichte sollten wir doch noch ausführlicher berichten.
Es mag ja angehen, daß er den Briefträger gebissen hat; nein, zu entschuldigen ist es nicht, doch bekanntermaßen wird auch der sanfteste Hund bisweilen von einer übernatürlichen Angst befallen, sein Fell sträubt sich, und in seiner Panik beginnt er wie besessen zu toben. Den Briefträger kannte Tschutora noch gar nicht, als ihn schon in frühester Kindheit stets dieses mit Ekel gemischte Entsetzen und ein Wutanfall überkamen, wenn er die in braunes Packpapier eingeschlagene, mit Kreuzband versehene ausländische Zeitung unter der Nachmittagspost erblickte, die der Briefträger zu gewohnter Stunde durch den Schlitz der Wohnungstür gleiten ließ – einen besonderen Grund dafür gab es nicht, zumindest ist nur schwer zu verstehen, warum dieses harmlose Druckerzeugnis Tag für Tag solche Zornausbrüche bei ihm auslöste. Aber wer mag da schon Ursachenforschung betreiben? Die Leidenschaft nährt sich aus so geheimnisvollen Quellen, daß weder Einsicht noch Kritik sie beeinflussen könnten; als hätten Bosheit und Intrige in einer fernen Stadt diese Gazette nur zu dem Zweck gedruckt und verpackt, ihn zu reizen, so sehr und eindeutig empfand er sie als persönliche Herausforderung und eine Art Racheakt; sonst hätte er nicht jeden Nachmittag mit solcher Leidenschaft Jagd auf sie gemacht. Stets lauerte er und registrierte das leise Geräusch, mit dem der Briefträger die
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