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Ein Jahr – ein Leben

Ein Jahr – ein Leben

Titel: Ein Jahr – ein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iris Berben , Christoph Amend
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Moment, ich gehe mal nach vorne, er ist bestimmt Richtung Küche … ( kehrt nach drei Minuten mit Paul an der Leine zurück ). Paul, so, jetzt bleibst du hier, schau mal, hier ist eine Wasserschüssel, du wirst doch verwöhnt. Entschuldigen Sie, bitte.
    Sie wollten gerade von Ihrem Abend in Hamburg erzählen.
    Das war eine aufregende Erfahrung. Ich muss dazu sagen, dass ich 2005 zum Holocaust-Gedenktag zum ersten Mal eine Lesung im Michel gemacht habe, mit den Texten des Lyrikers und Dramatiker Jizchak Katzenelson, dem »Großen Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk«.
    Katzenelson wurde nach Auschwitz deportiert und ist dort 1944 gestorben.
    Und Wolf Biermann hat gemeinsam mit Arno Lustiger seine Texte ins Deutsche übersetzt. Vor der Lesung bin ich Wolf Biermann bei einem Empfang in der israelischen Botschaft begegnet. Ich dachte, es ist vielleicht besser, ich frage ihn mal, was er von einer solchen Lesung hält und ob ich die Richtige bin. Er hat mir spontan etwas in den Text hineingeschrieben, rückwärts, Spiegelschrift. Er wünsche mir viel Glück, hat er geschrieben, es sei schön, dass ich die Texte lese.
    So kam es zur Lesung im Michel.
    Als ich gefragt wurde, ob ich dort auftreten würde, war ich in Gedanken sofort in meine Kindheit zurückversetzt. Das Hamburger Wahrzeichen, jedes Kind kennt es. Ich war aber noch nie im Michel gewesen. Ich dachte, wer kommt da schon, hört sich Texte von Katzenelson an und ein Orgelkonzert? Es kamen schließlich 1200 Leute, und es mussten viele wieder weggeschickt werden. Ich weiß nicht, ob Sie die Orgel im Michel kennen, es sind heute insgesamt fünf Orgeln, sie haben eine ungeheure Kraft. Dazu diese bitteren und schmerzhaften Texte vor 1200 andächtig zuhörenden Menschen in der eisigen Kälte der Kirche. Ein unvergesslicher Tag.
    Das war das erste Mal im Michel. Jetzt, habe ich in der Zeitung gelesen, waren Sie in der Krypta der Kirche.
    Naiv wie ich war, dachte ich, die Krypta sei eher klein. Im Gegenteil: Sie zieht sich unterirdisch fast über die gesamte Fläche der Kirche. Dort liegt aufgebahrt unter anderem der Sohn von Johann Sebastian Bach. Ich war eingeladen von einer jungen Ukrainerin, Olena Kushpler, die das Festival »Kontraste« ins Leben gerufen hat, es geht um Musik und Wort. Ich habe mein Programm mit den Gedichten von Selma Meerbaum-Eisinger gelesen, dazu gab es Klavierstücke.
    Und was war die aufregende Erfahrung, von der Sie vorhin sprachen?
    Nach meinem Auftritt im Programm kam ein israelischer Palästinenser mit einer atonalen Komposition, sehr avantgardistisch. Er hat zwei Gedichte von Meerbaum-Eisinger vertont, die vom Krieg handeln, und dementsprechend waren die Geräusche: kriegsähnlich. Wenn man den Hintergrund zu dieser Musik nicht kennt, ist es vermutlich einfach nur Lärm.
    Das Publikum wurde offenbar nicht darauf vorbereitet.
    Nein, und das hatte zur Folge, dass mindestens ein Drittel des Publikums den Raum verlassen hat, unter lautstarkem Protest. Hätte man sie vor dem Konzert aufgeklärt, was sie erwartet, hätten sie die Musik vielleicht immer noch nicht gemocht, aber sie hätten zumindest verstanden, was passiert.
    Wo waren Sie während des Konzerts?
    Ich hatte mich ins Publikum gesetzt. Und bei allem Verständnis für das unvorbereitete Publikum fand ich den Abgang mancher Leute einfach ungezogen. Man kann gehen, wenn einem etwas nicht gefällt, aber musste das auf diese Weise sein, laut polternd? Ich saß da und dachte darüber nach, wie ergriffen dasselbe Publikum auf meine Lesung reagiert hatte, wegen der Texte an sich, aber natürlich auch, weil jeder im Saal wusste, dass ein junges Mädchen im Alter von 16 bis 18  Jahren sie geschrieben hat, im Angesicht des Todes und im Angesicht einer ersten Liebe, die nicht erwidert wird. Man konnte die emotionale Wärme spüren.
    Danach das Gegenteil, von denselben Menschen.
    Sie haben sich in die Aggression gerettet, ja. Ich bin dann bis zum Schluss sitzen geblieben und habe die Musiker auf der Bühne beobachtet. Ich dachte, was geht in diesen Künstlern vor, die den Ärger und die Unruhe im Publikum mitbekommen? Sie haben alle mit großer Kraft und Konzentration ohne sichtbare Irritation das Konzert zu Ende gespielt. Es waren zwei Kräfte aufeinandergeprallt, das Publikum und die Künstler. Und beide haben ihres getan, beide auf ihre Art sehr konsequent.
    Mittendrin die Künstlerin Iris Berben, die merkt: Hier geht etwas schief. Und die nichts dagegen tun kann.
    Ja, eine Situation,

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