Ein Jahr – ein Leben
die man natürlich auch aushalten muss. Dann der Gedanke an den Komponisten, der auch da war. Was geht in ihm wohl vor? Als das Konzert zu Ende war, haben die Leute, die geblieben waren, laut applaudiert und sind lange geblieben. Olena Kushpler kam auf mich zu: »Ich wusste, es wird schwer, aber es ist gut, dass wir es gemacht haben.« Ich habe ihr zugestimmt, ja, und ich fand es auch spannend zu hören, wie ein israelischer Palästinenser mit seinem ganz eigenen Hintergrund und Verhältnis zum Krieg diese Gedichte vertont. Ich kenne sie ja fast auswendig. Als damals der deutsche Verlag von Meerbaum-Eisinger, Hoffmann & Campe, auf mich zukam und fragte, ob ich die Gedichte als Hörbuch aufnehmen möchte, habe ich zunächst nein gesagt.
Warum?
Ich habe mich gefragt, wie soll ich, als erwachsene Frau mit viel Lebenserfahrung, Texte eines knapp 18 -jährigen Mädchens über die Liebe vortragen? In welcher Stimmlage kann ich das tun? Ich habe abgesagt. Der Regisseur des Hörbuchs hat nicht lockergelassen und mit mir diskutiert. Ich habe ihm dennoch sagen müssen, dass ich keinen Zugang finde, dass ich glaube, die Texte müssen von einer sehr jungen Schauspielerin gelesen werden. Wir sind im Gespräch geblieben, und irgendwann hatte ich den Zugang gefunden: Mein Schlüssel zu den Texten ist die Liebe, die, wenn Sie so wollen, alterslos ist. Nicht nur Liebe, auch Trauer, Leid, die Empathie. Wenn Sie die Texte von ihr lesen, diese Genauigkeit in ihrer Sprache bemerken, können Sie denken: Das ist ein ganzes gelebtes Leben. Das geht mir auch so, wenn ich in den Tagebüchern von Anne Frank lese: ein beeindruckendes schriftstellerisches Talent, und im Angesicht der lebensbedrohenden Erfahrung, so scheint es, sind ihre Gedanken noch schneller gereift.
Das Medium Hörbuch muss für Sie ein Geschenk sein, eine 18 -jährige könnten Sie im Film nicht mehr spielen.
Ja, im Hörbuch geht das, da haben Sie recht.
Frau Berben, Selma Meerbaum-Eisinger spielt in Ihrem Leben eine besondere Rolle.
Oh ja. Die junge Ukrainerin, die den Abend im Michel organisiert hat, ist wegen ihr auf mich aufmerksam geworden. Selma war auch Ukrainerin, und ich habe es geschafft, dass sie jetzt nach all den Jahrzehnten endlich auf ukrainisch verlegt wird.
Sie war in der Sprache ihrer Heimat bislang nicht zu lesen?
Sie hat auf Deutsch geschrieben. Ich hatte einmal eine Lesung mit ihren Texten auf Schloss Neuhardenberg, mit dem Leiter der Stiftung, Bernd Kauffmann, bin ich seitdem bekannt. Und eines Tages fragt er mich: »Waren Sie eigentlich schon mal in der Ukraine?« War ich nicht. Wir sind dann von München nach Lemberg geflogen und anschließend sechs Stunden lang mit dem Auto nach Czernowitz gefahren. Für mich war diese Reise ein unglaubliches Erlebnis, denn ich kannte die Orte aus Büchern, die ich gelesen hatte, Bücher, die vor 100 Jahren geschrieben worden sind. Als wir in Czernowitz ankamen, wurde mir klar: Hier ist nichts Jüdisches mehr, gar nichts. Ich bin ins ehemalige Ghetto gegangen, aber man wusste nicht, dass man im Ghetto ist. Irgendwo steht ein kleines Schild, sonst nichts. Die Synagoge, die im Ghetto stand, ist heute eine große Holzfabrik, in der man ganz weit oben unter dem Dach ein kleines jüdisches Zeichen entdecken kann, wenn man danach sucht. In der großen Synagoge von Czernowitz sind heute sechs Kinos, ein Multiplex. Jüdisches Leben wird fast gar nicht wahrgenommen. Wir sind von einer jungen Frau empfangen worden, die an der Universität deutsche Literatur lehrt. Sie hatte unseren Besuch organisiert. Zwei Tage lang bin ich von morgens bis abends herumgelaufen, ich wollte gucken, gucken, gucken. Ich war im Jüdischen Museum, es ist ungefähr so groß wie dieser Raum hier im Café Einstein.
Sie hatten dort eine Lesung?
Ja, die Gedichte von Selma Meerbaum-Eisinger. Ich las sie im ersten Stock des jüdischen Nationalhauses, vor etwa 100 Leuten, unter ihnen waren auch zwei alte Männer, die den Holocaust überlebt hatten. Im Vorfeld der Reise hatten wir immer mit Professor Petro Rychlo, der uns eingeladen hatte, korrespondiert, auch um uns abzusprechen, welche Gedichte ich von Selma lesen würde. Ich hatte unter anderem zwei bestimmte vorgeschlagen und verstand erst gar nicht, als er sehr zurückhaltend antwortete, wenn es diese beiden sein müssen, dann natürlich gerne, er sei zurzeit nur sehr eingespannt in der Universität. Er versuche aber alles.
Er hat sie für Ihre Lesung extra übersetzt, weil sie nicht auf
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