Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
wieder zu sich. Die letzten Wochen hatte sie
sich oft so gefühlt, als schaue sie sich von außen an, als wäre sie, Emily
Neumann, eine leere Hülle.
Sie schloss ihren Rucksack und machte sich erneut auf den
Weg. Natürlich wäre es schön, wenn jetzt ein lieber Mensch mit ihr wandern
würde. Aber so schlecht fand sie ihre eigene Gesellschaft auch nicht. Sie pfiff
nach einer Weile sogar ein Liedchen, das war ihr lange nicht mehr passiert.
Viel zu schnell kam sie in Neckargemünd an. Sie stieg in die Stadt hinunter, in
der die Menschen noch hektisch ihren letzten Geschäften nachgingen. Während sie
an der Bushaltestelle stand, musterte sie die Fachwerkhäuser. Sie hatte das
Städtchen bisher nur vom Schiff aus gesehen, damals, als sie das erste Mal in
Heidelberg war. Wie unendlich weit weg dieser erste Besuch jetzt schon lag und
wie viel seitdem passiert war. Sie hatte gar nichts dagegen, wenn es in den
nächsten Monaten erst einmal ein wenig ruhiger zugehen würde.
Während sie der Bus wieder nach Heidelberg zum Bismarckplatz
trug, schaute sie auf die Uhr. Nun kam sie gerade rechtzeitig, um bei den
Vorbereitungen der Weihnachtsfeier im Seniorenheim zu helfen.
Sie arbeitete dort nun wieder zwei Tage am Wochenende. Alle
hatten sich gefreut, dass sie wieder mehr Zeit hatte. Bohni hatte ihr im
Stationszimmer ein vergessenes Fassnachtshütchen aufgesetzt und war mit ihr
durch das Zimmer getanzt. Da hatte sie richtig lachen müssen, obwohl ihr gar
nicht nach Lachen zumute war in den letzten Wochen.
Heute hatte sie versprochen, den beiden Diensthabenden zu
helfen, die darüber ausgesprochen froh waren.
Als sie ankam, wurde sie von Herrn Hirzel mit einer galanten
Verbeugung begrüßt. Zur Feier des Tages hatten sie ihm seinen geliebten Schlips
umgebunden. Frau Schorschi streckte die Hand nach ihr aus und rief: „Kommen Sie
junge Dame. Haben wir uns schon kennengelernt?“ Aus dem CD-Spieler im
Aufenthaltsraum dudelte Weihnachtsmusik der schlimmsten Sorte. Viele
Bewohnerinnen waren in den Tagen vor Weihnachten richtig aufgeregt. Sie
kruschtelten in ihren Schränken und verlangten nach Geschenkband. Sie schrieben
Briefe in zittriger Schrift. Oft auch an längst verstorbene Menschen. Der
Postrücklauf wurde dann immer abgefangen.
Bohni und Edith begrüßten sie herzlich. Bohni drückte ihr
eine Kerze in die Hand. Er schnappte sich seine Gitarre, sie würden erst einmal
eine Runde in den Zimmern der Bettlägerigen drehen. Bohni sang: „Ihr Kinderlein
kommet.“ Emily fiel mit unsicherer Stimme ein, Bohni sang dafür umso lauter.
Nun wurde ihr doch noch ganz weihnachtlich zumute.
Später gab es ein Buffet für alle. Sogar Ole Hicks war heute
gut aufgelegt. Er schoss Fotos und flirtete mit allem, was zwei Beine und einen
erkennbaren Busen hatte. Emily bediente und nahm sich viel Zeit für
Extrawünsche, die sonst so oft zu kurz kamen. Zum Schluss setzte sie sich mit
einem Glas Punsch und einer riesigen Portion Räucherlachs und Kartoffelauflauf
zwischen die alten Herrschaften. Sie erzählte nach allen Seiten und half verunglückten
Bissen, auch den richtigen Mund zu finden. Sie fühlte sich wohl so mittendrin.
Danach unterstützte sie Bohni und Edith dabei, die aufgedrehten Damen und
Herren in ihre Betten zu verfrachten, und schließlich machte sie sich erschöpft
auf den Heimweg. Sie schlenderte durch die Hauptstraße, während Grüppchen von
Menschen den Kirchen zuströmten.
Sie würde einen ruhigen Abend verbringen. Zuhause
angekommen, leerte sie ein letztes Mal den Briefkasten in der Hoffnung auf ein
wenig Weihnachtspost, obwohl sie selbst nicht viel Post verschickt hatte dieses
Jahr. Sie nahm die Briefe und ein kleines Päckchen von Ruth und Gabriel mit
nach oben. Dann schnappte sie sich die Flasche Rotwein, die sie anlässlich des
Festes gekauft hatte, und die Studentenküsse von Thorsten, über die sie sich
richtig gefreut hatte. Diese Heidelberger Schoko-Spezialität war ihr bisher
immer zu teuer gewesen, aber sie zerging richtig auf der Zunge.
Derart ausgestattet widmete sie sich ihrer Weihnachtspost.
Ihre Eltern hatten ihr einen großzügigen Kaufhof-Geschenkgutschein geschickt –
wie praktisch. Auf der beiliegenden Karte stand nochmal, wie sehr sie es
bedauerten, dass alles so gekommen sei. Und sie wünschten Emily ein Jahr ohne
weitere Verwerfungen. Na ja.
Sie öffnete einen großen grauen Umschlag, er kam vom
Nachlassgericht. Darin wurde sie am fünften Januar zur Testamentseröffnung von
Frieda
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