Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
Vogel eingeladen in ein Notariat zu kommen. Was Frieda Vogel ihr wohl
hinterlassen hatte? Sie schaute wehmütig auf das Bild von Frieda, das Claras
Großmutter ihr beim Ordnen der Hinterlassenschaften geschenkt und das sie über
ihr Bett gepinnt hatte. Dann nahm sie einen weiteren Brief zur Hand, das Papier
kannte sie schon, die Schrift auch. Er war von Claras Großmutter. Das war aber
nett, dass sie zu Weihnachten schrieb, dachte Emily und las:
Liebe
Emily.
Wir
wünschen Ihnen ein schönes Weihnachtsfest trotz all der Verluste, die Sie in
den letzten Wochen erleiden mussten. Vermutlich haben Sie schon die Einladung
vom Notar zur Testamentseröffnung unserer lieben Frieda erhalten. Weil heute
Weihnachten ist, möchten wir Ihnen aber schon vorab verraten, was Frieda Ihnen
schenken möchte: Frieda hat sich entschlossen, Ihnen ihre Wohnung zu
hinterlassen. Sie sagte, sie hätten sich so wohlgefühlt bei ihr, und sie konnte
es sich gut vorstellen, daß sie dort ein neues Zuhause finden würden. Wir haben
die Wohnung so belassen, wie sie ist. Einzig den Flügel hat Frieda der
Musikschule in Handschuhsheim vermacht, er ist schon abgeholt. – Sie war wohl
doch nicht ganz überzeugt von Ihrem musikalischen Engagement. Emily
musste lächeln. Wir, Clara und ich
helfen Ihnen gerne beim Sortieren und Renovieren. Sie wissen ja, Clara ist auch
eine hervorragende Umzugshelferin.
Dann verbleiben
wir mit den herzlichsten Grüßen und hoffen, daß Ihnen Frieda eine kleine
Weihnachtsfreude machen konnte.
Ihre
Monika Finkelstein
Emily ließ das eng beschriebene Briefpapier sinken. War das
zu fassen? Sie hatte eben eine Wohnung zu Weihnachten geschenkt bekommen! Sie
sprang auf, reckte die Arme und hüpfte ein paar Mal durchs Zimmer, so dass der
alte Dielenboden bebte und die Glasscheiben in ihrer Vitrine schepperten. Sie
drückte den Brief an ihr Herz und schickte ein riesiges Dankeschön an Frieda,
die es hoffentlich irgendwo auf ihrer Wolke hören würde. Nach und nach wurde
ihr bewusst, was das bedeuten würde. Ein Stein nach dem anderen fiel ihr
polternd vom Herzen, so dass sie vorsichtshalber zur Seite treten musste. Sie
würde in Ruhe studieren können, weil sie weniger finanzielle Sorgen hatte. Bei
finanziellen Engpässen würde sie sogar ein Zimmer untervermieten können. Sie
freute sich noch mehr, als sie daran dachte, wie sie den Geruch in Friedas
Wohnung liebte. Vielleicht sollte sie gar nicht so viel renovieren? Und
deswegen die Bemerkung mit der Ringeltaube in dem Abschiedsbrief, ja natürlich
würde sie sich gerne um die Ringeltaube kümmern. Frieda hatte ihr ein Geschenk
auf so vielen Ebenen gemacht, es war einfach wunderbar. Sie sah auf die Uhr:
Halb Neun. Family-Primetime. Aber sie würde trotzdem bei Claras Großmutter
anrufen. Clara nahm ab.
„Hallo Clara, hier ist Emily. Ich wünsch dir schöne
Weihnachten und wollte mich bedanken für dieses Riesengeschenk, das mir Frieda
gemacht hat. Sag bloß, du hast das die ganze Zeit gewusst und nichts gesagt?“
Clara lachte. „Ja, dir auch frohe Weihnachten, Emily. Ich
gebe dich mal weiter an meine Großmutter, sie steht hier schon ganz unruhig
neben mir.“
„Hallo Frau Finkelstein, vielen herzlichen Dank für Ihren
Brief und die tolle Überraschung mit der Wohnung. Ich freue mich so, dass ich
platzen könnte. Aber ich habe das Gefühl, das gar nicht verdient zu haben.“
„Liebe Emily. Frieda hat sich so darüber gefreut, Ihnen eine
Freude zu machen. Sie wissen, es gibt sonst keine Verwandten mehr. Und
Geschenke kann man sich doch gar nicht verdienen, oder meine Liebe?“
Emily nickte und fühlte Ströme von Glück an sich
herunterfließen.
„Haben Sie nicht Lust, noch bei uns vorbeizukommen? Wir
haben an Weihnachten immer ab einundzwanzig Uhr offenes Haus. Wir würden uns
freuen, wenn Sie uns noch ein wenig Gesellschaft leisten.“
Emily überlegte einen Moment. Sie hatte sich vorgenommen,
heute Abend bewusst alleine zu bleiben. Aber mit all ihrer Freude im Bauch wäre
das auch zu schade.
„Gerne komme ich, wenn ich Sie ganz sicher nicht störe.“
„Bis gleich, Emily.“
Emily trat vor den Spiegel. Zum ersten Mal seit Wochen
mochte sie sich wieder anschauen. Ihre Augen strahlten, ihre Wangen hatten
einen tiefen Roséton und sogar ihre Haare glänzten wieder ein bisschen. Jetzt
hatte sie auch die Kraft, noch kurz bei ihren Eltern anzurufen, um ihnen frohe
Weihnachten zu wünschen, natürlich ohne ihnen etwas von der Überraschung zu
verraten. Nach
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