Ein Jahr im Frühling (Cappuccino-Romane) (German Edition)
vielleicht doch nicht? Das Zimmer
gab’s nur mit Thorsten und der schien nicht gerade ein Hauptgewinn zu sein.
Als die Sanitäter Thorsten mitgenommen hatten, war es
plötzlich wieder ganz still in der Wohnung. Der Krankenwagen war immerhin ohne
Martinshorn davongefahren, also schien es nicht so richtig schlimm zu sein.
Emily unterdrückte ein Gähnen. Dann ging sie zu dem Mädchen, versuchte sie zum
Aufstehen zu bewegen, doch sie grunzte nur und ein Sabberfaden lief ihr über
das Kinn. Seufzend packte Emily sie unter den Schultern und schleifte sie keuchend in Thorstens Zimmer. Zum Glück lag
seine Matratze auf dem Boden. Sie hievte das Mädchen darauf. Die konnte
doch höchstens 50 kg wiegen, aber es fühlte sich mindestens nach doppelt so
viel an. Dann zog sie ihr noch die Schuhe aus und deckte sie zu. Als Emily
gerade fertig war, wandte das Mädchen den Kopf zur Seite und erbrach sich in
einem großen Schwall auf den Parkettboden. Emily sprang zur Seite. Auch das
noch, jetzt reicht es wirklich!
Müde schlurfte sie in die Küche, um einen Lappen und Eimer zum
Aufwischen zu holen, während das Mädchen bestialisch stinkend friedlich
weiterschlummerte. Nachdem sie auch noch die Scherben notdürftig
zusammengekehrt hatte, ließ sie sich wieder ins Bett fallen.
Als Thorstens Vater das
Haus verlassen hatte, blickte sie starr vor sich hin und nahm gedankenverloren
einen Schluck von ihrem kalt gewordenen Kaffee. Meine Güte, welch ein
arrogantes Ekel! Er schien es gar nicht für nötig zu halten, Thorsten im
Krankenhaus zu besuchen. Erst als sie ihm die Lage ziemlich drastisch und mit
Einzelheiten geschildert hatte, sah er ein, dass sich das Problem nicht mit
einem Erste-Hilfe-Kasten hätte lösen lassen. Kein Wunder, dass Thorsten nicht
in seine Anwaltsfußstapfen treten will. Dagegen sind die Zustände bei mir
zuhause ja noch richtig herzlich. Sie beschloss, Thorsten zwar klar ihre
Meinung zu sagen, aber ihn nicht so zusammenzustauchen, wie sie es nach dem
ganzen Trouble vorgehabt hatte. Dann warf sie den Staubsauger an, um die
letzten Scherben und Glasstäubchen wegzusaugen. Ihr Blick fiel auf den Stapel
an Büchern, der sich auf ihrem Nussbaumtisch türmte. Ihr kommt gleich dran,
dachte sie mit schlechtem Gewissen, erst mal brauch ich eine Tür. Sie suchte im
Internet nach Schreiner- oder Zimmereibetrieben in Heidelberg. Nachdem sie
mehrere Telefonate geführt hatte, fand sie sich damit ab, dass der früheste
Einbautermin für eine neue Tür wohl in drei Wochen wäre, dass aber am
Spätnachmittag immerhin jemand vorbeikäme, um Maß zu nehmen.
Sie hängte ihr altes großes Badehandtuch vor die Tür und
hämmerte kleine Nägel in den Holzrahmen, so hatte sie zumindest das Gefühl,
wieder eine Privatsphäre zu haben.
Seit ihrer Ankunft in Heidelberg, war bereits so viel
passiert, dass sie nicht so zum Studieren kam, wie sie das vorgehabt hatte. Sie
war so müde, so unglaublich müde, dass sie erst mal den Kopf auf die Arme
bettete, um noch kurz die Augen zu schließen. Gleich würde sie den Rest des
Tages beherzt anpacken.
Bilder stiegen in ihr
auf, wie sie gestern dem Bergfriedhof einen Besuch abgestattet hatte.
Sie schlenderte durch die Gräberreihen, die sich den Berg hinaufzogen, viele
waren liebevoll bepflanzt. Die Osterglocken verwelkten bereits, auch viele
Tulpen. Sie dachte an Frederik, ihren großen, kleinen Bruder, und wie schnell
die Zeit seit letztem Herbst vergangen war. Manchmal war ihr immer noch so, als
müsste er endlich wieder aus einem langen Urlaub auftauchen und alles wäre wie
früher. Gelegentlich ertappte sie sich auch dabei, wie sie zum Telefonhörer
griff und ihn anrufen wollte. Danach musste sie sich jedes Mal setzen, weil
ihre Knie ganz weich wurden und eine erneute Welle an Traurigkeit in ihr
aufstieg, so dass sie sich wieder wie eine leere Hülle fühlte.
Ihre Gedanken schweiften zurück. Sie stand wieder an Freds
Krankenbett. Im letzten Herbst hatte sie ihn mindestens jeden zweiten Tag nach
der Arbeit besucht. Da war er so schwach, dass er weder lesen noch fernsehen
konnte, aber jedes Mal, wenn sie kam, huschte ein kleines Leuchten über sein
Gesicht, so dass ihr ganz warm wurde vor Freude und Verbundenheit. Dann saß sie
in der Abenddämmerung an seinem Bett. Manchmal hielt sie sogar seine Hand, was
früher natürlich nie möglich gewesen wäre. Sie erzählte von ihrem Tag, den
großen und kleinen Dingen auf der Arbeit, er hörte zu. Das Fenster stand meist
offen und sie
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