Ein Jahr in Andalusien
lebten die Muslime vorerst weiter in den weißen Dörfern. Die Katholischen Könige siedelten in den
Bergorten aber auch Christen an, um ihre Herrschaft in den Gebieten zu sichern. Das Zusammenleben der beiden Religionsgruppen hielt viel
Konfliktpotential bereit und es kam bald zu Auseinandersetzungen. Des ersten Aufstands gedenken die Bewohner von Benalauría jedes Jahr im August mit
einem großen Straßentheater, bei dem alle Bürger mitmachen. Ein Teil verkleidet sich als Mauren, die anderen als Christen. Mindestens genauso spannend
wie das Rollenspiel klingt das Künstlertreffen in Genalguacil. Barbara wird dort mit einer Parallelausstellung für ihr Kulturtourismusprojekt werben,
heute Abend will sie eine große Feier machen, zu der sie alle Künstler eingeladen hat, die wir interviewt haben.
Während an den Küstenorten jetzt im Sommer dasLeben tobt und am Strand kaum mehr Platz für ein Handtuch ist, verlangsamt sich das
Leben in den Bergen. Vierzig Grad im Schatten zeigt das Thermometer fast den ganzen Tag an. Um zwölf wird das Tempo heruntergefahren, die Menschen
schleichen durch die Gassen. Um zwei ist Essens- und danach erst mal Siestazeit. An allen Fenstern sind den ganzen Tag über die Jalousien
heruntergelassen, um die heißen Sonnenstrahlen auszusperren. Erst am Abend kommen die Bewohner allmählich wieder aus den Häusern hervor. Doch in
Genalguacil ändert sich alle zwei Jahre im August dieser Rhythmus. Das abgelegene Dorf lädt Künstler ein, zehn Tage lang im Ort kreativ zu
werden. Unterkunft und Material zahlt die Gemeinde. Das Werk bleibt im Gegenzug im Ort. Seit mehr als zwanzig Jahren finden „Los Encuentros – Die
Treffen“ statt. Mittlerweile ist ein kunterbuntes Freilichtmuseum entstanden. Auch Barbara hat schon einmal an den Treffen teilgenommen, dieses Mal
werden zwei Freunde von ihr zu Werke sein.
Eine ebenso schmale und kurvige Straße wie diejenige, die nach Benalauría führt, schlängelt sich auch bis nach Genalguacil. Hinter dem Dorf geht es
nur auf einer Forststraße weiter, die immer tiefer in den Wald hineinführt. Am späten Nachmittag kommen wir in Genalguacil an. Obwohl ich ein kurzes,
dünnes Sommerkleid trage, habe ich das Gefühl, ein Pelzmantel würde mich umhüllen. Der Schweiß rinnt an meinem Körper herab, das Kleid klebt auf der
Haut. Den Dorfbewohnern scheint die Hitze jedoch nichts anzuhaben, es herrscht Ausnahmezustand. In den engen Gassen laufen Handwerker und Elektriker hin
und her, Fremdenführer studieren Informationen über das Dorf ein, und die Rathausangestellten koordinieren alles hektisch. Morgen ist der erste
offizielle Tag des Treffens, die Künstler trudeln gerade ein und mit ihnen die ersten Besucher. Derweil sitzen die Dorfältesten ruhig auf den
Holzbänken, dieauf kleinen schattigen Plätzen stehen, und beobachten das Geschehen.
Wir machen uns auf die Suche nach Barbara, die ihre Ausstellung in der Grundschule vorbereitet. Und dort finden wir sie auch: auf einem wackeligen
Stuhl, einen Nagel in die Wand hämmernd. „Hola“, sagt sie, als sie uns sieht, und fügt im selben Atemzug hinzu: „Gebt mir mal das Bild dort.“ Ich
reiche ihr eine düstere Kohlezeichnung. Mehrere halb nackte Männer bewegen mit großer Anstrengung ein riesiges Zahnrad, das eine komplizierte Maschine
in Gang hält. Das Bild könnte eine Szene aus Fritz Langs Metropolis darstellen. „Das Bild ist von Ángel, es ist eine Studie zu seinen Skulpturen. Die
Serie soll das Los der andalusischen Landbevölkerung darstellen, die ihr ganzes Leben der körperlichen Arbeit widmen“, sagt Barbara. Sie hängt das Bild
an den Nagel und bittet uns, ihr dabei zu helfen, es geradezurücken. Erst als das geschafft ist, steigt sie vom Stuhl und umarmt uns. „Ihr seid die
Ersten, die da sind. Ich habe eine Menge Leute eingeladen, hoffentlich ist viel los.“ Jaime und ich helfen ihr, die übrigen Bilder und Skulpturen in
Szene zu setzen. Als wir fertig sind, frage ich, ob sie noch Zeit hat, uns zu den schönsten Werken des Orts zu führen. Es ist sieben Uhr, in einer
Stunde soll die Vernissage beginnen. Kurzerhand hängt Barbara einen Zettel mit ihrer Nummer an die Tür der Schule, und schon läuft sie durch die Gassen,
wir hinterher.
Die Hitze scheint ihr wenig anzuhaben. Nur mit Mühe können wir mit ihr Schritt halten, der Schweiß läuft mir jetzt von der Stirn. Vor der
Bushaltestelle am Dorfeingang bleiben wir stehen. In einer Ecke sitzt eine Gestalt aus Pappmaché, ihr Blick
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