Ein Jahr in Australien
Vulkan im Hinterland, und daran, dass der dekorative Leuchtturm tatsächlich den östlichsten Punkt des ganzen, großen Kontinents markierte. Rund um den weißen Turm auf der steilen Landzunge vor mir hockten an diesem schwülwarmen Abend alle, die eine Prise Magie und eine rot ins Meer tauchende Sonne finden wollten. Gut gelaunte Pferdeschwanzträgerinnen aus Itzehoe saßen neben Rastalocken aus Tel Aviv, kahl geschorenen Schotten, Kleinfamilien aus Tokio, Hochzeitsreisenden aus Melbourne und Scharen von Liebespaaren aus dem Rest der Welt. Friedlich campten sie auf Bänken oder dem Rasen am Hang und hofften auf eine kühle Brise. Ich sah von der Aussichtsplattform rüber zu den Stränden im Süden: Wild schäumend brachen sich die Wellen vor dem langen Tallows Beach. Im Norden verschwanden die weicher gerundeten Ränder der Küste zwischen Felsnasen im Dunst. Es stimmte schon: Dieser Ort hatte eine besondere Ausstrahlung. Das Einzige, was mich wirklich störte, waren die Mücken, diese kleinen Mistviecher. Aber ein Paradies ohne Minuspunkt wäre vermutlich auch kaum auszuhalten gewesen.
Die Aussicht von den Klippen in Tamarama war ebenfalls schön, wenn auch völlig anders: Wir nippten Wein aus Plastikbechern und Bier aus Dosen und sahen über Villen, Strand und die Küste rüber zum Waverley Friedhof. Ich führte meine zerstochenen Knöchel aus Byron Bay vor und ließ angelegentlich einen schwärmerischen Satz fallen: „Ganz im Ernst, es ist traumhaft da oben. Der Surf ist fantastisch und das Wasser viel wärmer. Und dann der Regenwald …“ Drei Augenpaare starrten mich fragend an. Der kleine Trick wirkte. Sam machte noch ein Bier auf. „Und?“, las ich in denGesichtern. Will sie jetzt etwa auch Fußreflexologin werden und nach Byron ziehen? Ich ließ meine Freunde noch etwas zappeln. „Und all die Ökoläden! Find ich genial, da wird man vermutlich schon vom Vorbeilaufen irre gesund“, sagte ich. „Im Prinzip könnte ich ja meinen Computer nehmen und von da oben aus arbeiten.“ Chris riss leicht ungläubig die Augen noch weiter auf. „Ehrlich, dieses hügelige Hinterland, das ist ja so romantisch! Aber über kurz oder lang würden dann wohl glockenläutende Bergziegen durch meine Texte trotten. Genau, ich würde anfangen, Gedichte und Heimatromane zu schreiben“, grinste ich und nannte Letztere „ Heidi novels“, weil mir so schnell keine gute Übersetzung einfiel. Das gab ein paar Lacher. Ich traute meinen Ohren kaum: Sollte mir soeben gelungen sein, auf Englisch zu scherzen? „Abgesehen davon: In dem schwülen Klima da oben gibt es eindeutig zu viele Mücken. Nix für mich.“
Chris knuffte mich mit gespieltem Ärger in die Seite. „Das wollte ich dir auch geraten haben.“ Dann merkte ich, dass meiner Erzählung noch zwei weitere Ohren gelauscht hatten: Die Pistazien-Polizei stand schräg hinter mir. „Heimatromane haben doch durchaus ihre Höhepunkte“, warf er mit einem Lächeln ein, und zehn Minuten später steckten wir mitten in der schönsten Diskussion über das Wort Heimat, und was es eigentlich bedeutete und warum es so urdeutsch war, dass es kein richtiges englisches Pendant hatte. Dann redeten wir über Bücher und darüber, ob es in Ordnung sei, wenn Australier noch nie von Goethe gehört hätten, und warum Tim Winton mein australischer Lieblinsautor war und ob wir Michel Houellebecq im Original provozierender fänden als in der Übersetzung. Tatsache. Der Mann ohne Haare mit den meerblauen Augen las und sprach Französisch. Letzteres, wie ich mit deutscher Gründlichkeit natürlich sofort überprüfte, fließend, akzentfrei und, das gab ich gar nicht gerne zu, besser als ich. Und er war Australier.Warum mich das so erstaunte, feixte er, und freute sich sichtlich, mich ein bisschen hochnehmen zu können: „Ach stimmt ja: Wir haben ja keine Kultur hier unten.“ Dann brachte er uns noch ein Glas Wein, wir streckten uns auf der Wiese aus und redeten weiter. Über Wellen und Byron Bay und Wasser-Recycling und die Vor- und Nachteile der örtlichen Surfclubs und Australia Day und die Waldbrände in den Flinders Ranges und „global warming“ und alte Lieben und Südostasien. Und irgendwann war es dunkel, und mir fiel auf, dass die meisten anderen längst gegangen waren. Nur eine kleine Gruppe etwas stärker alkoholisierter Barbecue-Freunde war zum Vergnügen des „skinny dippings“ an den Strand runter gegangen. Wobei „skinny“, wie mir Peter eilfertig übersetzte, von Haut
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