Ein Jahr in Australien
Wassersport zur nationalen Leidenschaft entwickeln konnte. Vermutlich hätte das Verbot auch ohne ihn nicht viel länger standgehalten. Aber Gocher tat das Undenkbare und ging baden. Höchstprovokativ an gleich mehreren Sonntagen, bei schönstem Sonnenschein und vor den Augen der Obrigkeit. Ein Skandal. Aber bald fielen den Ordnungshütern keine guten Strafen mehr ein und Baden war fortan auch bei Tageslicht erlaubt. Natürlich nur, solange es in züchtiger, knielanger Kleidung geschah. Kurz darauf kam Duke Kahanamoku aus Hawaii zu Besuch und zeigte den faszinierten Strandbesuchern, was für ein Spaß das Balancieren auf einem Holzbrett war. Von da an wurde „the Surf“ – wie jede Art von Wellenbewegung in Australien genannt wird – zur Mode.
Leider ging die Begeisterung für den neuen Trendsport nicht Hand in Hand mit Kompetenz. Brandung und Strömungen brachten immer wieder Badende in Gefahr. Kräftigere Wassersportler schlossen sich deshalb zu Rettungsschwimmern zusammen und halfen den Schwächeren. Darum, welcher von mittlerweile 15 Surfclubs in Sydney dies nun als Allererster tat und sich „first lifesaving club of the world“ nennen durfte, stritten sich bis heute gleich mehrere Vereine.
„Unreal! Oh my God“, riss mich eine bekannte Stimme aus meinen Gedanken, „diese Bilder sind wirklich unglaublich!“ In ihrer Bürokluft, die tatsächlich täglich neu aus Anzughose und weißer Bluse bestand, beugte sich Christine über meine Schulter und quälte mich mit dem etwas schmerzhaften Kiefer-Öffnungs-Griff, den wir letzte Woche gelernt hatten. Aua! „Wo sind eigentlich die anderen? Ich dachte, ich sei zu spät.“ Genau, wir waren ja im Prinzip nicht hier, um in der Club-Vergangenheit zu schwelgen, sondern um dessen Zukunft zu sichern. Aber der Rest unserer Bronzeklasse ließ auf sich warten. Schließlich trudelten sie ein. Irgendwer, klärte uns Damien mit seinem entzückend irischen Akzent auf, hatte letzten Sonntag gesagt, wir würden eine Stunde später anfangen. Das war vermutlich jenseits meiner Erschöpfungsschwelle gewesen. Die Sonntage waren hart. Siemachten Spaß, aber sie waren Knochenarbeit. Wir paddelten Rettungsboards durch die Brandung und versuchten dabei, vermeintliche Patienten nicht in den Wellen zu verlieren, lernten Verletzte mit und ohne Trage zu schleppen, rannten, schwammen und rannten um die Wette. Die Dienstage waren auch nicht ohne. Was in meinem Fall vor allem an der Sprache lag. Dank Sean hatte ich inzwischen geschafft, die meisten Abkürzungen Dingen oder Handlungen zuzuordnen: Bei EAR, „Expired Air Resuscitation“ ging es um Mund-zu-Mundbeatmung, IRB hingegen war das aufblasbare Rettungsboot, nicht verwechseln, no worries. Aber es gab wöchentlich neue Begriffe, von denen mir einige selbst auf Deutsch fremd waren. Das konnte ja heiter werden. „No worries“, beruhigte mich Sean wieder, und kniff komplizenhaft ein Auge zu. An diesem Abend wiederbelebten wir uns nicht gegenseitig, sondern beatmeten eine mäßig attraktive Plastikpuppe ohne Gliedmaßen namens „Miss Annie“. Das war vielleicht auch ganz gut so, denn unsere kleine Bronzetruppe wuchs ohnehin immer enger zusammen. Wobei sich einige näherkamen als laut Buch erforderlich. Sam beispielsweise, ein englischer Kursteilnehmer, befand sich ganz eindeutig immer in dem Teil der Gruppe, der die kleine, blonde Karen als Probepatientin reanimieren musste. „Oh my God“, befand Chris, als ich meine Beobachtung mit ihr besprach, „meinst du wirklich?“ Sie liebte den Austausch von derlei wichtigen persönlichen Informationen, war aber in diesem Fall nicht eifersüchtig. Ihr Interesse galt, abgesehen natürlich von CPR und stabiler Seitenlage, den seltenen Stippvisiten von Club-Ober-Chefausbilder John. Eines Tages würde ich ihr gestehen müssen, dass ich besagten Herrn schon mehrfach beim Joggen mit der Frau mit dem langen, blonden Pferdeschwanz aus der Mittwochsgruppe gesehen hatte. Aber ich hasste das Überbringen schlechter Nachrichten, und überhaupt: Was bedeutete schon ein Dauerlauf?
Abgesehen davon hatte ich meine eigenen Zwiebeln zu schälen, wie der Australier zu sagen pflegte, wenn er meinte: Kümmer’ dich um deinen eigenes Bier. Es stand Besuch ins Haus. Wairoa 63 würde seine Qualitäten als Bed & Breakfast unter Beweis stellen müssen. Ein Ereignis, das vorbereitet werden wollte. Denn es war ja schon was Besonderes, wenn Menschen sich vom nördlichen Ende der Welt aus auf die Reise machten, um
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