Ein Jahr in Lissabon
meinem Magen ein Geschwür wachsen höre und gerne ein preußisches Sondereinsatzkommando durch den Raum schicken würde. Momente, in denen ich mich so sehr aufpumpe, dass die arme Schalterbeamtin gar nicht weiß, wie ihr geschieht, als ich schließlich an der Reihe bin und meinen Brief wie einen Pistolenschuss auf die Theke knalle mit der Bitte, ihn doch gefälligst zu frankieren. „Se faz favor“ – sofern Sie vielleicht irgendwann in diesem Jahrhundert noch die Güte haben sollten, mir diese Gunst zu erweisen!
Es braucht ein Schlüsselerlebnis, damit der Groschen auch bei mir, der Deutschen, fällt: Als ich einem Bus hinterherrenne, in der Hoffnung, ihn noch zu erwischen, ruft mir eine vorübergehende Portugiesin mit verständnislosem, fast nörgelndem Unterton zu: „Não corra, vem um outro! – Rennen Sie nicht, es kommt ein anderer!“ Wenige Minuten später kann ich tatsächlich in den nächsten einsteigen und dabei begreifen, dass in diesem kurzen und spontan herübergeworfenen Satz einer Passantin eine gesamte Lebensphilosophie enthalten ist. „Não corra!“ Was für eine Metapher! Es macht Klick in meinen Großhirnhälften, sowohl in der rechten als auch der linken. Wochenlang habe ich versucht, dem Gesetz der portugiesischen Zeit den Kampf anzusagen, jetzt kapituliere ich und akzeptiere die wohl wichtigste Lektion in Lissabon: Ich trete feierlich ein in die Schleuse der Entschleunigung, gestehe dem portugiesischen Stoizismus meine tiefste Verehrung zu und immatrikuliere mich an der Alma Mater der Gelassenheit, zu dernur Eine keinen Zutritt hat: die Mentalität des „Wer-zu-spät-kommt-den-bestraft-das-Leben“. Ich höre auf zu rennen, weil es unhöflich ist, der Zeit den Vortritt rauben zu wollen. Ich lerne, mich im Strom der Zeit treiben zu lassen und begreife, dass das, was diese Stadt so atemberaubend schön und das Leben in ihr so atemberaubend angenehm macht, ihr ruhiger Puls ist. „Não corra“, ermahne ich mich jedes Mal, wenn die Ungeduld doch wieder in mir hochsteigen will, und erinnere mich daran, dass es sich nicht lohnt, nervös zu werden – denn das Gesetz der portugiesischen Zeit ist ja Gott sei Dank stärker.
Dezembro
W ENN MAN NICHT MEHR RENNEN MUSS , weil man sich die Eile nicht mehr gestattet, öffnen sich Fenster. Fenster aus Zeit. Zeit, die man vielfältig nutzen kann, beispielsweise für ein Schwätzchen. Plaudereien sind von enormer, geradezu lebensnotwendiger Bedeutung in Lissabon, ja, ich würde die kühne These wagen, dass sie so wichtig wie die Luft zum Atmen sind. Im Laden einfach nur einzukaufen schickt sich nicht, man geht da auch hin, um sich ein bisschen zu unterhalten. Um sich übers Wetter oder über die Ware auszutauschen, oder, wenn man sich besser kennt, über das Befinden des Ehemanns und der Kinder.
Gelegenheiten zum Plaudern gibt es überall. Man kann über die Straße hinweg, von einem Trottoir zum andern einen Witz reißen und dann, laut gackernd, weiter des Weges ziehen. Man kann bei der Nachbarin, die im Erdgeschoss wohnt, ans Fenster klopfen, und wenn die Nachbarin zu Hause ist, zieht sie den Vorhang zur Seite, lehnt sich bequem auf das Fenstersims und erzählt, dass ihr Enkelkind nun schon den dritten Zahn sein eigen nennt. Und danach schimpft sie, nicht minder komfortabel aufgestützt, aber etwas intensiver gestikulierend, über die neuesten Reformen der Regierung und die Erhöhung der Miete. Hervorragend ins Gespräch kommen lässt es sich auch an der Bushaltestelle. Und natürlich im Bus selbst. Da kann man sich mit dem Sitznachbarn unterhalten – oder mit dem Fahrer. Denn was in Deutschland streng verboten und – dem Nicht-füttern-Schild im Zoo vergleichbar – durch den Aufkleber „Während der Fahrt bitte nicht mit dem Fahrer sprechen“untersagt ist, gehört in Lissabon kostenlos zum Service der Transportos públicos dazu. Sich abends auf dem Nachhauseweg lässig neben den Motorista zu lehnen und ein bisschen über den Tag und die neuesten Ereignisse zu schnacken ist Usus – warum auch sollte der Platz ums Lenkrad herum nicht gleichzeitig noch als Wohnzimmer und Küchentisch genutzt werden? Zumal nicht nur die Fahrgäste, sondern auch der Fahrer selbst auf Kommunikation angewiesen ist, denn:Gestärkt durch zwischenmenschlichen Austausch lässt es sich einfach besser arbeiten. Deshalb greifen die Motoristas, wenn niemand da ist, mit dem sie sich unterhalten können, auch gerne mal zum Telemóvel, etwa, um dem Kumpel, der gerade seine
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