Ein Jahr in Lissabon
Geschmack wird er an diesem Festtag pur gegessen, soll heißen, einfach nur schlicht in Brühe gekocht und mit Gemüse und Kartoffeln serviert.
Seit zwei Tagen hat Marta die getrockneten und gesalzenen Stücke in Wasser eingelegt, das sie regelmäßig gewechselt hat, um dem Fisch das Salz zu entziehen undihn wieder weich zu bekommen. Ganz wichtig beim Wässern ist, dass die Haut nach oben zeigt – nur dann kann das Salz nach unten absinken. „Laut Legende ist der Bacalhau bei der Entdeckung Amerikas von den Seefahrern ‚erfunden‘ worden. Um den Fisch, den sie auf ihre langen Reisen mitnahmen, haltbar zu machen, wurde er in Salz eingelegt und getrocknet“, erzählt Marta, während sie die Flamme auf dem Gasherd kleiner dreht. „Aber wir haben es wohl ein bisschen übertrieben mit unserem Nationalgericht. Denn wir können den Bacalhau nicht mehr in unseren Gewässern fangen, die sind längst leergefischt. Wir importieren alles aus Island und Norwegen. Irgendwie absurd, oder?“
Ansonsten ist Marta, die normalerweise ein durch und durch fröhlicher Mensch ist, verstimmt. Wegen der Wirtschaftskrise hat die Stadt Lissabon dieses Jahr auf die Weihnachtsdekoration verzichtet, was die Alfacinhas insgesamt, Marta aber im Besonderen, der Regierung äußerst übel nehmen. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie schön die Stadt mit den Weihnachtslichtern ist!“ Doch was im Großen ausfällt, kann im Kleinen ja trotzdem stattfinden, und deshalb hat Marta bereits vor zwei Wochen begonnen, das staatliche Versäumnis zu kompensieren, indem sie die Wohnung aufgerüstet hat. An der Eingangstür prangt in rot-weiß-karierten Lettern der Schriftzug „Feliz Natal“, das Wohnzimmer krönt ein blinkender Plastik-Weihnachtsbaum, der nie müde wird, seine Signale zu morsen, von den Griffen der Küchenschränke haben sich gülden glitzernde Engelchen abgeseilt und im Flur lebt neuerdings ein Schneemann, der jedem, der vorbeigeht, per Bewegungsmelder ein Jingle-Bells-Ständchen singt, weshalb ich mich nachts nicht mehr auf die Toilette traue. Und apropos Toilette, ja, auch dort hat Weihnachten Einzug gehalten: in Gestalt einer sternförmigen, nach Zimt riechenden Seife.
Für mich jedoch ist alles andere als Weihnachten, für mich ist Schizophrenie. Wenn ich die Menschen in den vergangenen Tagen bei strahlendem Sonnenschein mit großen Tüten durch die Straßen habe gehen sehen, habe ich mich gefragt, wieso die Lisboetas sich schon im Frühjahr um Weihnachtsgeschenke kümmern. Auf der verzweifelten Suche nach einem geeigneten Motiv für die jährliche Weihnachts-Mail habe ich schließlich die Orangen an den Bäumen auf der Rua dos Sapadores fotografiert und meinen Freunden in Deutschland als Christbaumkugeln feilgeboten. Nichts, aber auch gar nichts fühlt sich nach 24. Dezember an.
Doch meine portugiesische Familie wird schon dafür sorgen, dass Weihnachten auch dieses Jahr nicht ausfällt. Jetzt klingelt es nämlich, und der zweite Sohn von Marta und Jorge, der mit seiner Frau und seinem einjährigen Töchterchen in einem Vorort von Lissabon wohnt, trifft ein. Und deshalb wird nun gegessen. Und es wird wahnsinnig gut gegessen. Und es wird wahnsinnig viel gegessen. Und es wird gar nicht mehr aufgehört zu essen.
Wir fangen mit der Suppe an, die eine Caldo Verde ist – die traditionelle portugiesische Kohl-Kartoffelsuppe, Martas Spezialität. Danach gibt es den Bacalhau, der mir, obwohl pur, ausgezeichnet schmeckt und zarter geworden ist, als ich erwartet habe. Als Nachtisch zergeht uns Farófias com Leite Creme auf der Zunge, Eischnee mit Milchcreme. Und damit ist das Mahl noch lange nicht zu Ende, denn wir haben ja noch gar nichts vom Bolo Rei gegessen, dem Königskuchen mit verschiedenen getrockneten Früchten, eine weihnachtliche Tradition. „Früher wurde in den Bolo Rei eine Bohne oder eine Münze eingebacken und wer die erwischte, musste den nächsten Kuchen bezahlen“, erzählt mir Felipe, Martas jüngster Sohn. „Aber das haben sie aus hygienischen Gründen abgeschafft.“
Bob Marley, der zur Feier des Tages die Dose mit den leckeren Geflügel-Gourmetstückchen in den Napf bekommen hat, streift uns um die Beine, während zum Abschluss des Menüs noch Käse aus der Serra da Estrela aufgeschnitten und auf kleinen salzigen Crackern gereicht wird. All das mit Wein, versteht sich: Jorge genießt es, dass seine Sammlung endlich zu voller Geltung kommt und er heute Abend den DJ am Korkenzieher spielen darf. Ein kleiner
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