Ein Jahr in Lissabon
Port gefällig? Oder mal den Mandellikör kosten? „Queres provar?“ – „Sim, gostaria.“ Also, noch ein Gläschen!
Es ist ein schönes, lebendiges Fest, bei dem viel geplaudert wird und bei dem ich spüren kann, welche Bedeutung der Familie in Portugal beigemessen wird. Kinder bleiben hier lange zu Hause wohnen, nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern weil es schlicht üblich ist, dass sie erst ausziehen,wenn sie selbst eine Familie gründen. Felipe kocht mit 21 Jahren zwar inzwischen für sich alleine, aber Marta wäscht noch immer für ihn. Auch die Großeltern sind selbstverständlicher Teil der Familie: Ganze Generationen portugiesischer Kinder wachsen unter den Fittichen von Oma und Opa auf – da berufstätige Frauen hier lediglich fünf Monate Mutterschaftsurlaub in Anspruch nehmen können, springen „os avós“ helfend in die Bresche. Tanten und Onkels, Cousins und Cousinen werden regelmäßig besucht, die Verwandtschaft fungiert als wichtiges soziales Netz. Wie eng der Zusammenhalt zwischen den Angehörigen ist, konnte ich auch sehen, als ich auf einem Friedhof erstmals den Familiengräbern begegnet bin, die in Portugal sehr üblich sind. Kleine Bauten, in denen die Särge übereinandergeschichtet und Fotos von jedem einzelnen Familienmitglied aufgestellt werden – bis in den Tod hinein verbunden.
Aber das muss an dem guten Mandellikör liegen, dass ich jetzt so sentimental werde. Und an Weihnachten samtseinem verflucht feierlichen Gefühl, dem man sich nicht einmal bei sonnigen Temperaturen entziehen kann. Und daran, dass Marta sogar an ein Weihnachtsgeschenk für mich gedacht hat. Ich packe ein herrlich buntes, dickes Notizbuch aus und nehme dazu noch Martas Lächeln in Empfang, als sie mir sagt: „Damit du all das, was du hier in Lissabon erlebst, aufschreiben kannst.“
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Wie immer hat Marta recht: Es ist Zeit für ein Notizbuch. Zwar habe ich aufgehört, meine Erfahrungen in Lissabon als Lektionen zu notieren, weil ich längst dazu übergegangen bin, in dieser Stadt zu leben. Dennoch brauche ich eine Zwischenbilanz. Ich brauche ein Stündchen in meinem kleinen Schwimmbad, das zwischen den Feiertagen ganz leer ist, weil die Sereias de Lisboa sich eine Weihnachtspause gönnen, um dort, beaufsichtigt von Nadador Salvador, ein paar Bahnen zu ziehen und nachzudenken. Und ich brauche, als ich mich nach dem Schwimmen mit nassen Haaren in die Pastelaria setze, ein heißes Süppchen, das ich bei den beiden Teenies bestelle, die ihrem Vater helfen, den Laden zu schmeißen. Da im Café nicht viel los ist, sind sie gerade damit beschäftigt, die neueste Folge der brasilianischen Telenovela anzuschauen. „Phhh. Que estúpido!“, kommentieren sie den Typen, der seiner Liebsten mit melodramatischer Schwere weismachen will, dass er sie nicht betrogen hat. Ich pflichte ihnen bei, während ich meine Caldo Verde löffle – und erhalte nicht nur ihre volle Aufmerksamkeit, sondern auch Zugang zu den höheren Weihen. Denn sie realisieren schnell, dass ich Anfängerin bin, sowohl in der portugiesischen Sprache als auch im Telenovela-Geschäft, und beginnen deshalb, mich mit missionarischemEifer über die gesamten Ereignisse der vergangenen zwei Jahre aufzuklären. Wobei sie, damit ich es besser verstehen kann, die komplizierten Zusammenhänge und verzweigten Handlungsstränge mit einem Kugelschreiber auf die Papiertischdecke aufmalen, auf der ich gerade meine Suppe esse.
Zehn Minuten später bin ich erleuchtet. Und finde, dass ich diesen Moment nutzen sollte, um auf der bemalten Tischdecke mein neues Notizbuch aufzuschlagen. Wäre mein Lissaboner Leben Teil einer Telenovela, so frage ich mich, den Blick weiter mit halbem Auge auf den Fernseher gerichtet – welche Neuigkeiten müssten die Zuschauer dann erfahren, um auf dem aktuellen Stand zu sein?
• Dank meiner wöchentlichen Tandem-Treffen mit Inês, deren Liebeskummer zunehmend verblasst, umfasst mein Wortschatz nicht mehr nur 300, sondern sicherlich schon 800 Worte. Vermutlich sogar mehr. Ich habe das Kinderbuch, das ich mir im Oktober auf dem Feira da Ladra gekauft habe, längst ausgelesen und bereits einen weiteren Band durchgeackert. Einen Bestseller für Erwachsene wohlgemerkt. Weil Bücher so teuer sind in Portugal – denn für ein kleines Land werden nur kleine Auflagen produziert –, bin ich nun stolze Besitzerin eines Ausweises für die Bibliotéca Municipal de Camões. Ich kann also schon richtig viel lesen – habe aber noch
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