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Ein Jahr in Lissabon

Ein Jahr in Lissabon

Titel: Ein Jahr in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Roth
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lebhafter tauschen die Reisenden nun Thesen zum Vorfall aus, spekulieren über mögliche Tathergänge und eventuelle Spuren, in jedem steckt schließlich ein kleiner Sherlock Holmes, und irgendwann, ich weiß nicht wie, entdeckt einer das Portemonnaie plötzlich auf dem Boden. Welche mysteriösen Wege es bis dahin gegangen ist, wird niemand erfahren, welche Hände es vorher berührt haben, auch nicht – jeder allerdings kann beschwören, dass es dort wenige Sekunden zuvor noch nicht gelegen hat. Als kurz darauf die Polizei eintrifft, hat sich das Problem in Luft aufgelöst, die Türen können wieder geöffnet werden, die Straßenbahn setzt ihren Weg fort.
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    Und während ich durch das Fenster der Eléctrico nach draußen schaue, huscht bisweilen ein Maikäferchen, an der Hand der Mutter gezerrt, vorbei. Oder ein kleiner Pirat, der mich mit seinem Holzschwert bedroht. Am Museo do Chiado steigt eine Walküre mit langen blonden Zöpfen ein, die von Travestie träumt, weil sie eigentlich ein Mann ist. Doch außer diesen kurzen Momenten, die sich wie flüchtige Fata Morganen in den Alltag einweben, ist nicht viel von Karneval zu spüren in Lissabon.
    Trotzdem bin ich auf dem Weg zum Feiern, denn es gibt etwas zu feiern: Teresa hat einen neuen Job gefunden und darauf wollen wir anstoßen. Teresa, die ich an Silvester überInês kennengelernt habe, gehört längst zu meinen engeren Lissaboner Bekanntschaften. Ursprünglich stammt sie aus dem Alentejo und ist Wissenschaftlerin, Forscherin im Bereich Neurologie – weswegen ich neuerdings weiß, was Zentralnervensystem, Hypothalamus und Synapse auf Portugiesisch heißt. Die letzten Male, die ich sie getroffen habe, hat sie mir bereits von dem aufwändigen Bewerbungsverfahren erzählt, das sie gerade durchläuft und von dem sie so inständig hofft, dass es sich lohnen wird. Es hat sich gelohnt, denn im kommenden Monat kann sie anfangen: bei einer neurologischen Fachzeitschrift, für die sie sowohl Artikel schreiben als auch redaktionell tätig sein wird. „Ich hab die Stelle!“, hat sie am Telefon gerufen. „Ich hab die Stelle!“ Und um zu verstehen, warum das von so großer Bedeutung ist, um zu verstehen, dass es hier nicht um einen Schritt auf der Karriereleiter, sondern um eine Existenz geht und dass diese Nachricht nicht nur einen Cocktail, sondern auch die Blumen verdient, die ich für Teresa gekauft habe, ist es Zeit, von der Krise zu sprechen. Von der Krise, die ich immer wieder auszublenden versuche, weil ich mich bisweilen wie ein Parasit fühle – ich, die ich den unfairen Vorteil habe, den schlechten wirtschaftlichen Zustand Portugals zwar hautnah zu erleben, aber, wohlbehütet in meinem Stipendiumskokon, nicht unmittelbar davon betroffen zu sein.
    Doch die Krise lässt sich nicht ausblenden, sie begegnet mir überall. Jeden Abend werden die Fernsehnachrichten davon eröffnet, jeden Tag berichten die Zeitungen über die neuesten Statistiken. Die Werbebranche nutzt die Krise für zynische Kommentare: „Dinheiro é uma espécie rara“, spottet eine Bank auf großen Plakaten, „Geld ist eine seltene Art.“ Restaurants bieten ein „Menu da crise“ an, Plakate an den Litfaßsäulen machen auf Kongresse aufmerksam, dieüber den Umgang mit der Krise sprechen, der regierungsnahe Sender RTP 1 lanciert eine Serie, in der der Bürger lernen kann, wie man spart, und die Zeitung „Público“ begleitet unter dem Titel „Um ano em crise“ fünf Familien aus fünf verschiedenen Bereichen des Landes durch das Jahr.
    Immer, wenn meine Gegenüber erfahren, dass ich aus Deutschland komme, kann ich beobachten, wie ein kurzes Zucken über die Gesichter läuft und die Leute sich innerlich mit den Worten „Sie kann ja nichts dafür“ zu korrigieren scheinen – und dann weiß ich, dass ich als Nächstes gefragt werde, was ich von Angela Merkel halte. Die Wut auf Merkel und Sarkozy sowie das zugehörige Sparpaket ist groß. „Combate o governo da Troika“ steht auf Plakaten geschrieben, die dazu aufrufen, gegen die harten Sparauflagen der Troika (dem Gespann aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF) zu demonstrieren. Viele Portugiesen fühlen sich in eine Reihe gestellt mit Dritte-Welt-Ländern, schämen sich, so weit unten zu sein. An den Wänden der Industriebaracken entlang des Tejo zeigt ein Graffiti Merkel und den ehemaligen Premierminister José Sócrates küssend, versehen mit dem zynischen Kommentar, dass dieser Kuss das Land in die Armut

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