Ein Jahr in Lissabon
verschlägt, meine Hand ans Kinn, was mir in diesem Moment so brachial wie ein guillotinaler Akt erscheint. Im Gegensatz zu mir ist der Frisör unbeeindruckt, er versucht nicht, mich von meinem Vorhaben abzuhalten, sondern nimmt alles kopfnickend hin und schlingt mir einen großen weißen Umhang um den Hals, um mich endgültig zu entmündigen, steckt meinen Kopf unter den kalten Wasserhahn und dann … Dann zückt er die Schere. Die mir größer scheint als jede Schere, die ich je gesehen habe. Schnipp, die erste Strähne ist ab. Schnapp, die zweite Strähne folgt. Und jetzt, wo Strähne für Strähne auf den schwarz-weiß-karierten Steinboden fällt und es sowieso kein Zurück mehr gibt, versuche ich mich zu entspannen und Tiago zu überhören, der mir, im Sessel und Rasierschaum gleichermaßen ertrinkend, seine liebsten Frisörgeschichten erzählt. „Weißt du eigentlich, dass ich einer Freundin mal die Haare geschnitten habe? Das Bad war so klein, dass ich immer nur auf einer Seite stehen und deshalb nicht überblicken konnte, wie die Lage auf der anderen Seite war. Also musste ich mehr und mehr und mehr abschneiden, um die Haare auf dieselbe Länge zu kriegen, haha – am Ende sah sie aus wie ein Lastwagenfahrer und musste erst mal zum Frisör!“
Noch ein Zentimeter, noch ein Zentimeter, dann die Stufen – wird das nicht alles viel zu kurz? Zu spät. Schon wandert der Schaum in die Haare. Und danach wird geföhnt. Leider ohne Trockenhaube, Lockenwickler oder Brennschere, schließlich hat auch ein altmodischer Cabeleileiro in Lissabon ein Recht auf Fortschritt. Rundbürste und Fön stehen parat, während Strähne für Strähne kraftvoll von den Borsten erfasst wird, gnadenlos gezwirbelt und gerollt, noch einmal gnadenlos gezwirbelt und gerollt, bis mein ganzerKopf vor Spannkraft nur so elektrisiert ist. Anschließend wird Haarfestiger versprüht, literweise. Und dann? Dann schaue ich in den Spiegel und bin mir ganz fremd. Die Frisur ist quasi betoniert, kein Haar kann sich mehr rühren. Mir scheint das kein guter Zeitpunkt für ein Erinnerungsfoto zu sein, denn ich würde am liebsten in Tränen ausbrechen. Noch nicht einmal eine Mütze habe ich dabei, unter der ich mich verstecken könnte. Trotzdem versuche ich, tapfer zu lächeln und beim Bezahlen nicht zu vergessen, mich mehrfach zu bedanken, dass er so freundlich war, eine Ausnahme zu machen, der Cabeleileiro mit den perfekt gegelten Haaren.
Als wir schon draußen sind,werfe ich noch einmal einen Blick in den Laden, schaue noch einmal auf die Spiegel, die Sessel, die muschelförmigen Waschbecken und bin erstaunt, dass sie ihren Zauber nicht verloren haben. Und während ich so schaue, erhasche ich mein Spiegelbild im Schaufenster, wiege den Kopf hin und her und finde mein neues Selbst gar nicht mehr so schlecht. Immerhin, so denke ich, bin ich jetzt einmal in meinem Leben so sorgfältig und gut frisiert wie eine Lisboeta. Und dann kann ich auch schon wieder lachen, weil wir auf diesen Schreck einen Galão trinken gehen und Tiago, der glatt rasiert ist wie eine Schlittschuhbahn mir auf die Schulter klopft und sagt: „Eh pá, ich find’s gut – aber wenn’s dir nicht gefällt: Mein brasilianischer Frisör macht auch Extensions!“
Fevereiro
„M ON PASSEPORT, MON PASSEPORT ! N OBODY GO OUT !“ Alle zucken zusammen, für einen Moment lang scheint der gesamte Waggon den Atem anzuhalten, instinktiv greifen sämtliche Passagiere zu ihren Handtaschen und drücken sie fest an den Körper. Die kleine, stämmige Mittfünfzigerin, deren Kehle der Schrei entfahren war und die dem Akzent nach offenkundig Französin ist, hat sich im Zentrum der Straßenbahn postiert und schaut fordernd in die erschrockene Stille: „Somebody has stolen my portemonnaie. Nobody go out, until it is given back to me, vous-entendez! Nobody go out!“ Selbst der Fahrer ist eingeschüchtert von so viel napoleonischem Eifer, hat dem Befehl widerstandslos nachgegeben, die Bahn gestoppt und die Ausgänge verriegelt. Der begleitende Ehemann versucht, seiner Frau beizustehen, doch neben dieser flammenden Jeanne d’Arc des Passeports gibt er eine eher unscheinbare Figur ab. Und nun verharren wir also, die Türen fest verschlossen, irgendwo auf der Rua da Voz do Operário, während das Leben anderswo weitergeht. Überall – nur nicht hier drinnen.
Ich seufze und bereue meine Entscheidung, mit der Eléctrico gefahren zu sein. Seit mehr als vier Monaten verzichte ich bereitwillig auf sie,
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