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Ein Jahr in Lissabon

Ein Jahr in Lissabon

Titel: Ein Jahr in Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Roth
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nehme nur noch den Bus oder die U-Bahn, denn längst habe ich genug von der 28 , der kleinen gelben Tram, die zum Stadtbild Lissabons gehört wie die Azulejos oder der Tejo. Wie eine kleine eifrige Raupe kriecht sie an der Igreja d’Estrella vorbei in den Bairro Alto, von dort aus weiter in die Baixa, um dann unerbittlich Höhenmeter um Höhenmeter zu erklimmen, hinzur Kathedrale Sé, hinein in die engen Gassen der Alfama, in denen stellenweise nur noch einspuriges Fahren möglich ist und die Fußgänger sich hektisch an die Häuserwände drücken, um nicht von dem keuchenden Gefährt erfasst zu werden. Seit 1902 frisst sich dieses diensterprobte Fossil durch die Straßen Lissabons, viel hat es gesehen, viel erlebt, ein unermüdliches zeitgeschichtliches Dokument. Wie sehr hatte ich mich nach meiner Ankunft in Lissabon gefreut, als ich nach einem Blick auf den Stadtplan feststellte, dass mein Weg zur Arbeit, von Graça in den Bairro Alto, haargenau der Strecke der 28 entspricht. Und bei meiner ersten Fahrt hatte ich mich auch noch begeistert in dem holzgetäfelten Innenraum durcheinanderschütteln lassen und nicht minder fasziniert dem Fahrer über die Schulter auf das schwere schmiedeeiserne Lenkrad geschaut.
    Doch schnell wurde klar: Die gute alte 28 mag zwar für Postkartenromantik taugen, für den Alltag ist sie nicht zu gebrauchen. Täglich bis zum Bersten vollgestopft mit Touristen, kann man den Sitzplatz getrost in den Wind schreiben und stattdessen froh sein, wenn genügend Raum zum Atmen bleibt. Und da die Touristen mit Kameras und dicken Portemonnaies versehen sind, sind sie natürlich ein gefundenes Fressen für Taschendiebe. Allein in den ersten zwei Wochen wurde ich zwei Mal Zeugin eines Diebstahls. Die Langfinger sind geschickt, steigen ein, drängeln, machen Wirbel, und ehe die Bahn abgefahren ist, haben sie sich schon die erste Beute geholt und steigen wieder aus.
    Das eigentliche Ärgernis aber ist, dass auf die 28 einfach kein Verlass ist. Stunden stand ich an der Haltestelle, ohne dass die kleine Gelbe um die Ecke bog. Sei es, weil ein Auto auf den Schienen parkt und den Weg versperrt, sei es aus sonstigen Gründen – die alte Dame lässt gerne auf sich warten. Und so hatte ich anfangs jeden Morgen vor derArbeit und jeden Abend nach der Arbeit das „Mal-sehen-wer-schneller-ist-Spiel“ gespielt, mich zu Fuß von Station zu Station gehangelt – und nicht selten kam es vor, dass ich nach dreißig Minuten zügigen Gehens in Graça eintraf, ohne dass ich auch nur den Hauch einer Bahn gesehen hatte. „Schluss mit der Nostalgie“, dachte ich und stieg um, nahm und nehme seither den gänzlich unspektakulären, aber zuverlässigen Bus 735 . Außer … außer heute eben. Heute hatte ich mich dazu verführen lassen, aufzuspringen, weil gerade eine angefahren kam, als ich durch die Rua da Graça ging – und prompt bin ich in die Falle getappt. „Anfängerfehler“, denke ich zerknirscht, während ich Teresa eine SMS schicke, dass ich in der 28 feststecke und mich leider verspäten werde. Die Antwort kommt umgehend und mit einem Smiley versehen: „In der 28 ? Tztztzzz … Anfängerfehler!“
    „Nobody go out! C’est un portemonnaie rouge! Please give it back to me. I need my passeport.“ Die erste Schockstarre hat sich gelöst, leise beginnen die Fahrgäste miteinander zu tuscheln, doch das vermisste Portemonnaie ist nirgends zu sehen. Verdächtigende Blicke wandern umher, sofort ist ein Pärchen ins Visier genommen, das ärmlich aussieht und nicht zu den Touristen gehört. Die Französin fordert sie auf, das Diebesgut herauszugeben, aber die beiden schweigen beharrlich und schauen teilnahmslos aus dem Fenster, so, als würde sie all das nicht betreffen. Dem Ehemann geht die energische Selbstjustiz seiner Gattin zu weit, er mahnt sie flüsternd zur Contenance – was, wenn das Pärchen völlig zu Unrecht verdächtigt wird? Auf Drängen der Französin hat der Fahrer inzwischen die Polizei gerufen, ich spüre, dass ihm der ganze Vorgang unangenehm ist. Zu viel Aufsehen, zu viel Druck, zu viel ungezügeltes Temperament für ein portugiesisches Gemüt. Und sich voneiner hysterischen Touristin, die zu ungeschickt ist, in einem überfüllten Waggon ihr Portemonnaie zu schützen, die Kontrolle über seine Straßenbahn rauben zu lassen – was soll man dazu sagen? „If you give me back my passeport, I won’t tell you to the police“, verhandelt die Französin weiter in gebrochenem Englisch. Zunehmend

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