Ein Jahr in Lissabon
Verkehrsbetrieben, gearbeitet hat und nun von 700 Euro Rente leben muss. An Marta und Jorge, die nicht arm sind, die sich aber genauestens organisieren: Einkäufe werden nur in den großen Supermärkten getätigt, die beiden wissen genau, wo sich was am billigsten besorgen lässt – und zu Hause werden die Quittungen detailliert abgeglichen und die Summen ins Haushaltsbuch eingetragen. Wir wohnen zu viert auf etwa 65 Quadratmeter – dass Marta und Jorge davon 7 Quadratmeter an mich vermieten, ist sicherlich nicht nur ihrem Interesse an Menschen zuzuschreiben, sondern auch der schlichten Tatsache, dass sie Geld brauchen. „Dinheiro é uma especie rara.“
Am härtesten aber ist die Situation für die jungen Menschen. Felipe, Martas Sohn etwa, hat mit 21 Jahren weder einen Ausbildungsplatz noch eine Arbeit und hangelt sich von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob – mit den sogenannten „Recibos verdes“, den grünen Formularen, hat der Staat die Bedingungen für die jungen Menschen noch erschwert, müssen sie sich doch bei den befristeten Verträgen sogar selbst versichern. Wenige Monate vor meiner Ankunft in Lissabon hatte die Musikband „Deolinda“ auf einem Konzert einen Song vorgestellt, der wie eine Bombe einschlug: „Que parva que eu sou – Wie blöd ich doch bin.“ Teresa zückt ihr Handy und spielt ihn mir auf YouTube vor: „Sou da geração sem-remuneração … Ich gehöre zu einer Generation ohne Gehälter / und das macht mir nicht mal etwas aus. / Wie blöd ich doch bin. / Denn es geht uns schlecht, und das wird erst mal so bleiben. / Es ist schon ein Glück, wenn ich ein Praktikum machen darf.“ Die jungen Menschen seien aufgestanden und hätten geschrien, als das Lied erstmals gespielt wurde, erzählt Teresa – es habe einfach absolutden Nerv getroffen. Der Song wurde zum Schlachtruf einer Generation, die keine Zukunft für sich sieht. „E fico a pensar / que mundo tão parvo / onde para ser escravo / é preciso estudar … – Und ich frage mich, was das für eine bekloppte Welt ist, in der ich studieren muss, um ein Sklave zu sein.“ Viele Jugendliche emigrieren ins Ausland, weil sie in Portugal keine Chance mehr für sich sehen.
Auch Teresa, die nach dem Studium bereits fünf Jahre in England gelebt hat, hatte Angst, wieder wegzumüssen. „Ich will nicht mehr ins Ausland, verstehst du?“, hatte sie mir vor einigen Wochen gesagt. „Hier ist mein Lebensumfeld, ich will nicht schon wieder von vorne anfangen.“ Und weil das nun nicht sein muss, weil sie in Lissabon bleiben kann – deshalb feiern wir heute Abend.
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Und wo feiert man in Lissabon? Natürlich im Bairro Alto. Das Bairro Alto ist das Vorzeigekind des modernen Lissabon, weil mit dem Bairro Alto wunderbar unter Beweis gestellt werden kann, dass diese so alte Stadt auch junge Seiten hat. Das Bairro Alto ist hip, das Bairro Alto ist frisch, das Bairro Alto ist beliebt. Hier brummen das Leben und die Party, hier gibt es eine quirlige Schwulenszene, die sonst in Lissabon nicht unbedingt ins Auge sticht, hier ist alles „fixe“, das heißt cool, weshalb sich die Reise-Magazine gerne auf dieses Viertel stürzen, um die ultimativen Ausgeh-Tipps zu geben. Das Bairro Alto ist aber auch voller Hostels, voller Touristen und voller Zugereister, die hier ein bisschen wohnen und ein bisschen feiern wollen. Und die sich nächtelang von Bar zu Bar hangeln, um in den Menschentrauben vor den Kneipen unterzutauchen und so lange einen Caipirinha nach dem anderen zu trinken, bis die Straßenin den Morgenstunden von Limonenscheiben übersät sind.
Weil es so hip ist, geht mir das Bairro Alto bisweilen auch auf die Nerven. Deshalb bin ich ganz froh, dass wir heute Abend nur zum Essen dort bleiben und, um einen Cocktail zu trinken. Für danach hat Teresa eine bessere Idee: Wir setzen uns ins Auto und fahren am Tejo entlang stadtauswärts, Richtung Oriente, Richtung Fábrica do Braço de Prata, einer ehemaligen Waffenfabrik aus Zeiten der Diktatur, die nun zum Kulturzentrum umgebaut worden ist. Dort findet an diesem Wochenende ein Festival für Folklore-Tanz statt. „Folklore-Tanz?!“, frage ich entsetzt – denn das hat Teresa mir vorher nicht verraten. Sieht so der Karneval in Lissabon aus? – „Nein“, lacht Teresa, und aus ihren grün-braunen Augen mit den langen Wimpern blitzt der Schalk, „das hat nichts mit Karneval zu tun, ist aber gerade total in.“ – Folklore? In? „Desculpa, sorry, aber das kann ich nicht, hab ich
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